Gefährliche Ideen
Gewissheit zu behaupten, dass Kreativität gleich welcher Spielart stets etwas Gutes sei.
Wenn wir unterstellen, dass Kreativität von dem Versuch handelt, neue Sichtweisen auf bereits Bestehendes zu entwickeln, dann müssen wir zumindest den Gedanken erwägen, dass Kreativität bisweilen bedeuten könnte, weniger kreativ zu werden. Kommt Ihnen das seltsam vor? Denken Sie einmal darüber nach: Wenn jeder versucht, kreativ zu sein und sich neue Ideen auszudenken,folgt daraus nicht logischerweise, dass in einem solchen Kontext das Kreativste wäre, bewusst weniger kreativ zu sein und stattdessen auf alte Ideen zu setzen? Oder, falls Sie eine Metapher aus der Welt des Sports bevorzugen: Wenn alle in eine Richtung rennen, ist das Kreativste nicht unbedingt, der Meute zu folgen und noch schneller zu rennen; vielmehr besteht es womöglich darin, in eine andere Richtung zu laufen. Zumindest könnte dies eine ausgezeichnete Übung in Kreativität sein – und eine viel herausfordernde als das alberne Herumwursteln mit neun Punkten und einem Bleistift. Wenn wir über das Querdenken reden und jeder sich daran versucht, gewinnt derjenige, der es nicht tut.
Kreativität – sagen Sie einfach Nein!
Zweifeln Sie an!
Um das Ganze noch zu verschlimmern, scheint es, als könnte man nichts Kreativeres tun, als Kreativität infrage zu stellen. In einer Zeit, in der jedermann das Loblied der Kreativität trällert, könnte bewusste Unkreativität sogar ein radikaler Akt sein! Oder, wie ich einmal in einem anderen Zusammenhang schrieb (und was könnte hier passender sein, als ungeniert von mir selbst abzuschreiben?):
»Ernsthaft kreativ ist nicht notwendigerweise derjenige, der die meisten oder auch die verrücktesten Ideen hat. Auch ist Kreativität nicht unbedingt synonym mit der neuartigsten oder modernsten Lösung. Den wirklich kreativen Menschen zeichnet hingegen die Fähigkeit aus, sich nicht auf eine einzige Denkweise festlegen zu lassen, weder in Bezug auf das jeweilige Problem noch hinsichtlich der Frage, was Kreativität »ausmachen sollte«. Meine Lieblingsanekdote zu diesem Thema stammt aus der Zeit der Sowjetunion. Lange Zeit hatte die NASA darüber nachgedacht,wie ein perfekter »Astronautenstift« aussehen könnte – ein Kuli, der unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit funktioniert. Zahlreiche hochintelligente Leute ersannen einfallsreiche Vorschläge, und Millionen von US-Dollar wurden in seine Entwicklung investiert. Als es der NASA schließlich gelang, einen Stift zu entwickeln, der im Weltraum funktionierte, beschloss sie, ihre Errungenschaft mit anderen zu teilen, und überließ diese »überlegene Innovation« dem sowjetischen Raumforschungsprogramm zur freien Verfügung. Das stolze Lächeln wich allerdings bald perplexen Gesichtsausdrücken, als die Sowjets entgegneten, dass sie auf dasselbe Problem gestoßen und sofort auf Bleistifte ausgewichen waren. 2
Simpel, funktional, altbekannt, geprüft und erprobt. In meinen Augen ist das eine weitaus kreativere Herangehensweise als die Forschungs- und Entwicklungsleistung der NASA, denn man
traute sich, Kreativität zu ignorieren!
Dies ist zudem ein typischer Fall von unkonventionellem Denken, da Kreativität in unserem Kontext selbst zur Konvention geworden war.
Doch ich höre schon Ihren Einwand: Wie kann irgendjemand nur behaupten, dass Kreativität eine Konvention sei? Handelt sie nicht gerade davon, alte Konventionen zu überwinden? Es stimmt, so sollte es sein, doch das funktioniert nur, wenn wir wissen, worin genau die Konvention besteht. Heutzutage sprichtsich jedermann für Kreativität aus, und man findet kaum jemanden, der es wagt, sie zu kritisieren. Ich habe selbst unzählige Stunden mit der Lektüre von Geschäftsberichten und Konzeptpapieren verbracht und dabei kein einziges Unternehmen gefunden, das nicht betont hätte, dass Kreativität und Innovation zu den Kernwerten und den zentralen Elementen seiner Gesamtstrategie zähle. Insofern habe ich versagt, doch dafür ist mir ein viel seltenerer Coup gelungen, denn ich habe etwas geschafft, woran fast alle Sozialwissenschaftler scheitern: Ich habe ein 100-Prozent-Resultat erzielt.
Zu den Binsenwahrheiten im Forschungsbetrieb zählt auch der Satz, dass man nie ein Ergebnis erhält, das auf 100 Prozent lautet. Irgendein Haken, irgendeine Variable findet sich immer. 100 Prozent sollte eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit sein, da ein so hohes Maß an Sicherheit in der Welt einfach nicht existiert
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