Gefährliche Ideen
– außer wenn es um Kreativität geht (oder um Innovation, ihren etwas älteren Bruder). Denn wer Fragen zu Kreativität und Innovation stellt, erfährt von jedem Unternehmen und jedem CEO, dass beide von entscheidender Bedeutung seien. Man muss schon deutlich tiefer in der Organisation graben, um jemanden zu finden, der mürrisch widerspricht und zu Protokoll gibt, das sei doch alles nur Hokuspokus. Vielleicht. Wenn man Glück hat.
Ich kann den Aufschrei der Kreativitätsberater beinahe hören: Natürlich, wenden sie ein, alle Welt
redet
davon, aber wer handelt denn wirklich danach? Wer bemüht sich wirklich aktiv um ihre Entwicklung? Natürlich lässt sich darüber trefflich streiten, doch solche Fragen gehen letztlich am Kern des Problems vorbei. Wir leben noch immer in einer Zeit, in der jedermann ein Bekenntnis zur Kreativität ablegt. Noch immer es ist außerordentlich schwer, jemanden zu finden, der den Mut aufbringt, diese Sichtweise zu kritisieren und zu fragen, warum sie heute als selbstverständlich und allgemein akzeptiert gelten kann. Und selbst wenn es zutreffensollte, dass nicht jeder, der Kreativität propagiert, auch entsprechend handelt, ändert das nichts an der Tatsache, dass es heutzutage eine Kreativitätsideologie gibt, ein Dogma, das Kreativität und Innovation als rein und gut und wahr ansieht, für immer und ewig. Amen.
Schön und von allen geliebt
Tatsächlich ist alles noch schlimmer, als ich es soeben dargestellt habe. Ginge es nur darum, dass die Unternehmenswelt für Kreativität wirbt, könnte man das Ganze als eine Managementmode unter vielen anderen abtun. Die traurige Tatsache ist allerdings, dass das Thema inzwischen hoch politisiert ist. Heute jubeln nicht mehr allein CEOs und Berater der Kreativität zu, sondern es könnte ebenso gut ein Bürokrat oder Premierminister sein, der vor diesem besonderen Altar andächtig niederkniet. Wenn wir in der Welt umherblicken, dann stoßen wir auf die Kommunistische Partei Chinas, die – von Mao inspiriert – erklärt hat, dass Kreativität ein natürlicher Bestandteil der Entwicklung des Kommunismus und sogar ein Wesenskern des revolutionären Ideals sei. Anderenorts hat Wladimir Putin, der nur selten zur Avantgarde der Innovation gezählt wird, bekundet, dass Kreativität die Antriebskraft des modernen Russland sei – und wenn ein alter KGB-Offizier so etwas sagt, dann sollte man besser zuhören.
Ich habe lange nach jemandem gesucht, den ich als stabile Erscheinung in unserer heutigen Welt ansehen könnte – jemanden, der ganz sicher nicht auf den Kreativitäts- und Innovationszug aufspringen würde. Es musste doch jemanden geben, bei dem man sich darauf verlassen konnte, in Sachen Kreativität völlig konservativ zu sein. Ich meinte eine derartige Person gefunden zu haben, doch wieder einmal wurde ich enttäuscht. Die Person,die ich als Urgestein des Konservatismus identifiziert hatte, war ein Herr namens Joseph Ratzinger. Er schien mir die perfekte Wahl zu sein, denn nicht nur war er Deutscher und arbeitete in der katholischen Kirche, sondern er war auch Chef der
Congregatio pro Doctrine Fidei
gewesen – einer Organisation, die weitaus besser unter ihrem ehemaligen Namen bekannt ist: der Heiligen Inquisition. All dies schien mir eine recht gute Garantie dafür zu sein, dass dieser Mensch nicht auf der Suche nach Innovation sein würde, und als er zum Papst gewählt wurde und den Namen Benedikt XVI. annahm, vermutete ich, dass er mein fester Hort des Konservatismus wäre, eine stabile Präsenz in unserer veränderlichen Welt. Doch ich wurde bitter enttäuscht. Heute unterhält selbst der Vatikan (!) Innovationsprogramme und hat sogar ein neues Entlohnungssystem für seine Angestellten eingeführt. Nicht einmal der Heilige Stuhl kann sich also von der Euphorie um Kreativität völlig freimachen, und damit ist wirklich die letzte Bastion gefallen.
Während ich Obiges schrieb, erschien ein weiteres Beispiel auf meinem Radarschirm, das in meinen Augen bestätigte, wie weltumspannend der Kreativitätswahn sich mittlerweile ausgebreitet hat. Da ich viel davon halte, Einflüsse aus aller Welt zu sammeln, besitze ich ein virtuelles Abonnement auf Nachrichten aus Nordkorea – ein mehr als unwirklicher Ort, der sich zudem in einer Art Zeitschleife befindet. Sie können sich also vorstellen, wie überrascht ich war, folgende höchst amüsante Meldung in meinem Nachrichtenüberblick zu lesen: »Kim Jong Il, der Führer der Demokratischen
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