Gefährliche Ideen
Unser so rationaler Verstand kann uns oft zu recht irrationalen Haltungen (ver)führen.
Genderrotations-Maschinen
Zu den unbequemen Dingen dieser Welt gehören in den Augen der meisten Menschen auch hochhackige Schuhe. Und die meisten Männer finden es absolut widerwärtig, sich Frauenkleidung anzuziehen (»Was werden andere Männer von mir denken?«). Aus diesem Grund ließ sich General Motors 2007 ein Projekt einfallen, bei dem ihre Fahrzeugdesigner und Ingenieure genau dies tun mussten. Bei dem Versuch, in Kleidern und hochhackigen Schuhen in die Fahrzeuge von GM ein- und auszusteigen, konnten diese (fast ausschließlich männlichen) Ingenieure eine Menge über ihre weibliche Kundschaft lernen, aber vielleicht noch mehr über sich selbst. Die Verkleidung als Frau war unbequem und ein wenig ekelig, doch gerade deshalb erwuchsen daraus neue Einsichten. Anders als ein reines Brainstorming es vermocht hätte, gelang es durch diesen Perspektivwechsel, kreative Normen innerhalb des Unternehmens infrage zu stellen, wodurch sich Lösungen eröffneten, die wirklich kreativ und nicht nur bequem waren. Sicher, das Ganze kam etwas spät und war wohl auch unzulänglich, aber man kann aus derartigen Experimenten vieles lernen.
Zu Beginn des Buches haben wir uns mit Flip Video beschäftigt, jener einfachen Videokamera, welche die etablierten Modelle bedrohte. Wir hätten stattdessen genauso gut ein anderes Beispiel heranziehen können: den Einzug des Netbooks. Mit den kleinen, preiswerten und relativ langsamen Laptops gelang ihren mittelständischen Herstellern ein überragender Markterfolg. Erneut stellt sich dieselbe Frage: Warum hat nicht einer der großen Konzerne diesen neuen Produkttyp eingeführt? Antwort: Aus demselben Grund, der auch dafür sorgte, dass die Flip Video von einem Unternehmen entwickelt wurde, von dem zuvor noch niemand gehört hatte. Beide Produktideen unterscheiden sich deutlich in ihrem jeweiligen Kontext, doch beide haben gemeinsam, dass sie aus Sicht der Platzhirsche in den betreffenden Märkten provokative, beunruhigende Konzepte darstellten. Ein Ingenieur, der sich mit der Entwicklung von Laptops befasst, ist normalerweise besessen von der Vorstellung, ein technisch möglichst perfektes Produkt zu erschaffen. Die meisten Ingenieure folgen dem Macho-Ethos »Mehr ist besser« – größere Bildschirme, schnellere Prozessoren, mehr Leistung fürs gleiche Geld. Die Maschine wird zum Symbol für die Männlichkeit, Macht und Kompetenz des Ingenieurs. Etwas schlechter oder weniger leistungsfähig zu machen – das ist einfach nur widerwärtig.
In der IT-Branche wurden Netbooks als Provokation angesehen, und zwar nicht von der positiven Sorte. Billiger Schund, um es ganz klar zu sagen. Nichts, womit sich ein seriöser Mensch beschäftigen würde. Abstoßend, lächerlich und dumm. Doch erfolgreich, und wie! Ikea ist ein ähnliches Beispiel. Als das Unternehmen das radikale Konzept vorstellte, flach verpackte Möbelteile zu verkaufen, die man selbst zusammenschrauben musste, rümpfte die Möbelbranche nur die Nase. Das gehörte sich einfach nicht – billiger Ramsch, den man auch noch selbst aufbauen musste? Wie könnte irgendjemand stolz auf ein solches Produktsein? Natürlich hat der Lauf der Geschichte gezeigt, dass es allen Grund gab, stolz zu sein, aber dennoch waren viele Menschen entsetzt.
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Gefährliches Denken verlangt, dass wir diese instinktive Ekelreaktion überwinden und einen Schritt weiter gehen, als es unsere kognitive Flüssigkeit erlaubt. In jeder Branche gibt es Dinge, auf die man stolz ist, die allgemein als löblich gelten. Wem es gelingt, darüber hinauszugehen, kann eine Revolution anzetteln.
Pensionärsporno
Um ein Beispiel zu nehmen, das für jeden von uns früher oder später zur Realität wird, versuchen Sie sich bitte in die Situation eines älteren Menschen hineinzudenken. Wir leben in einer stetig alternden Gesellschaft, in der die Altersgruppe der Menschen über 60 immer weiter anschwillt und an Bedeutung gewinnt. Dennoch wird diese Gruppe gewohnheitsmäßig ignoriert, wenn über Kreativität und neue Ideen gesprochen oder nachgedacht wird. Um eines meiner Lieblingsbeispiele aufzugreifen (und dabei das Thema des nächsten Kapitels anzutippen): Wie oft denken Sie über Sex zwischen älteren Menschen nach? Falls Sie nicht selbst bereits im fortgeschrittenen Alter sein sollten, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Sie es überhaupt nicht tun. Und
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