Gefährliche Ideen
als angenehm empfunden wird, und daher auch eines jener Phänomene, die nicht zu dem getarnten Konservatismus herkömmlicher Kreativität passen. Doch das Ekelgefühl ist noch mächtiger, es löst ein Unbehagen aus und gibt uns das Gefühl, eine Grenze überschritten zu haben. Wir ekeln uns nur selten vor uns selbst, sogar wenn wir uns ekelhaft verhalten; vielmehr entsteht der Widerwille zumeist als Reaktion auf äußere, als aufdringlich empfundene Einflüsse. In gewisser Weise ist das Ekelgefühl eine deutlich verstärkte Variante des Unangenehmen und eignet sich daher besser als Lehrbeispiel, um die Grenzen unseres normalen Denkens zu erkunden.
Schneckenbrei
Betrachten wir ein weiteres Beispiel: Schneckenbrei. Lassen Sie dieses Wort einmal genüsslich auf Ihren Geschmacksknospen zergehen – »Schneckenbrei«. Löst nicht gerade angenehme Gefühle aus, oder? Die meisten Menschen, denen gegenüber ich diese Vokabel erwähne, schauen mich verdutzt an und bestehen darauf, dass wir das Thema wechseln. Das gilt insbesondere, wenn wir gerade zu Tisch sitzen, denn es klingt nach der Erfindung eines Kindes, das es darauf anlegt, seine Eltern oder Freunde zu schockieren. Dennoch existiert Schneckenbrei nicht nur, sondern es ist sogar Bestandteil des Verkostungsmenüs im
The Fat Duck
(Bray, Vereinigtes Königreich), einem der weltweit führenden Restaurants mit drei Michelin-Sternen und einem ständigen Ehrenplatz in den einschlägigen Empfehlungslisten. Küchenchef und Inhaber dieses Restaurants ist das verschrobene Genie Heston Blumenthal, ein Mann, der viel Energie darauf verwendet, sich einen völlig unbeschränkten Blick auf Lebensmittel und deren Potenzial zu bewahren. Aus seiner Sicht existiert kein Lebensmittel, das von Grund auf ekelerregend wäre, höchstens solche, die er noch nicht probiert und verwendet hat. Sein Schneckenbrei veranschaulicht diese Einstellung auf hervorragende Weise und zeigt, welche Leistungen möglich sind, wenn man sich nur zutraut, durch Kombination einer klassisch französischen Spezialität wie Schnecken mit etwas überaus Britischem wie Haferbrei etwas Interessantes zu zaubern.
Einer gängigen Definition von Kreativität zufolge ist sie die Kunst, zwei bereits bestehende Dinge zu etwas Neuem und Überraschendem zu verbinden. Schneckenbrei ist dafür ein großartiges Beispiel – zwei bewährte Nahrungsmittel werden zu etwas Einzigartigem kombiniert. Die Kreativitätsforschung liebt derartige Beispiele, hat sich aber immer schwer mit der Erklärung getan, warum uns manche Dinge gefallen, andere aber nicht. Dies lässt sich auf eine bestimmte Eigenart unseres Gehirns zurückführen.
Um Kreativität zu begreifen, müssen wir uns mit zwei parallel verlaufenden Prozessen beschäftigen. Auf der einen Seite steht der Lernprozess, also die Ausweitung unseres Faktenwissens und der Möglichkeiten, diese Fakten gegebenenfalls zu kombinieren. Hierauf richtet sich in der Regel das Hauptinteresse, zum Teil deshalb, weil es sich so leicht über all die Möglichkeiten sprechen lässt, mit denen Sie oder Ihr Unternehmen Fakten und Wissen anhäufen und dadurch Begabungen entwickeln und Ressourcen erweitern können. Man kann mehr lesen, mehr reisen, mit neuen Leuten sprechen oder versuchen, einen ganzen Arbeitstag mit verbundenen Augen zu bewältigen – aus alledem lernt man etwas. Man kann (wie das Team, das den iMac entwickelte) einen Betriebsausflug zu einer Bonbonfabrik machen, Künstler, Sushi-Köche oder Clowns anheuern, um die Talentschmiede wachzurütteln, oder viel Wert auf Vielfalt innerhalb des Unternehmens legen. Es gibt viele Möglichkeiten des Anhäufens.
Doch dies ist nur einer der beiden Prozesse. Der andere, schwerer kontrollierbare besteht in der Praxis des Gehirns, all diese Fakten, dieses Wissen und diese Talente danach zu klassifizieren, ob sie legitim und verwendbar sind oder illegitim, ekelerregend oder gar gefährlich. Dieser selbstbegrenzende
Legitimierungsprozess
verläuft normalerweise unbewusst, doch wer die Rolle des Ekelgefühls in Bezug auf Kreativität begreifen möchte, muss sich mit diesem selbstbegrenzenden Prozess auseinandersetzen und dagegen ankämpfen.
Das Gehirn als Motor
Durch reines Lernen können Sie Ihre Kreativität steigern – jedenfalls auf einer rein trivialen Ebene. Doch Sie beschränken sich dabei auf eine Erweiterung Ihrer Vorstellungswelt, das heißt, Sie fügen einer begrenzten gedanklichen Sphäre und deren Potenzial weitere Elemente
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