Gefaehrliche Liebe
den Kopf und ein leises Lächeln umspielt ihre Lippen.
Im Publikum ist es jetzt still geworden, so still, dass ich mich frage, wie das überhaupt möglich ist. Sie müssen alle den Atem anhalten.
Ich wende mich zu Rues Familie. »Bei Rue jedoch habe ich das Gefühl, sie zu kennen, und sie wird immer bei mir sein. Alles Schöne erinnert mich an sie. Ich sehe sie in den gelben Blumen, die auf der Weide an meinem Haus wachsen. Ich sehe sie in den Spotttölpeln, die auf den Bäumen singen. Doch vor allem sehe ich sie in meiner Schwester, Prim.« Meine Stimme ist wacklig, aber ich habe es fast geschafft. »Ich danke euch für eure Kinder.« Ich hebe das Kinn, als ich mich an das Publikum wende. »Und ich danke euch allen für das Brot.«
Ich stehe da, fühle mich gebrochen und klein, zahllose Blicke sind auf mich gerichtet. Sehr lange bleibt es still. Dann pfeift jemand aus der Menge Rues Spotttölpelmelodie. Die vier Töne, mit denen in den Obstplantagen das Ende des Arbeitstages eingeläutet wurde. In der Arena bedeuteten sie Sicherheit. Als die Melodie verklingt, sehe ich, woher der Pfiff kam: von einem hutzligen alten Mann in einem verblichenen roten Hemd und Latzhose. Unsere Blicke treffen sich.
Was dann passiert, ist kein Zufall. Es vollzieht sich so vollkommen synchron, dass es unmöglich ein spontaner Akt sein kann. Jeder Einzelne im Publikum legt die drei mittleren Finger der linken Hand auf die Lippen und streckt sie dann zu mir aus. Das ist unser Zeichen aus Distrikt 12, mein letzter Abschiedsgruß an Rue in der Arena.
Hätte es das Gespräch mit Präsident Snow nicht gegeben, würde diese Geste mich womöglich zu Tränen rühren. Doch da ich seinen Befehl, die Distrikte zu beruhigen, noch in den Ohren habe, erfüllt sie mich mit Furcht. Was wird er von diesem öffentlichen Gruß an das Mädchen halten, das dem Kapitol die Stirn geboten hat?
Auf einmal wird mir klar, was ich da getan habe. Ohne dass es meine Absicht war - ich wollte nur meine Dankbarkeit ausdrücken -, habe ich etwas Gefährliches ausgelöst. Einen Akt des Widerstands in Distrikt 11. Genau das, was ich verhindern soll!
Ich überlege, womit ich das Geschehene zunichtemachen, es widerlegen könnte, doch da wird mit einem leichten Knacken mein Mikrofon abgeschaltet, und der Bürgermeister ergreift das Wort. Peeta und ich nehmen noch einen letzten Applaus in Empfang. Er führt mich zurück zur Tür, er merkt gar nicht, dass etwas nicht stimmt.
Mir ist ganz komisch und ich muss einen Augenblick stehen bleiben. Kleine Lichtfetzen tanzen vor meinen Augen. »Alles in Ordnung?«, fragt Peeta.
»Nur ein bisschen schwindelig. Die Sonne war so grell«, sage ich. Ich sehe seinen Blumenstrauß. »Ich hab meine Blumen vergessen«, murmele ich.
»Ich hol sie«, sagt er.
»Das mach ich schon«, sage ich.
Hätte ich die Blumen nicht vergessen, wäre ich nicht stehen geblieben, dann wären wir jetzt wohlbehalten im Justizgebäude. Stattdessen sehe ich von der schattigen Veranda aus alles mit an.
Zwei Friedenswächter ziehen den alten Mann, der gepfiffen hat, hinauf auf die Treppe. Zwingen ihn vor der Menge auf die Knie. Und jagen ihm eine Kugel in den Kopf.
5
Der Mann ist gerade erst auf dem Boden zusammengesunken, als eine Wand aus weißen Friedenswächtern uns die Sicht versperrt. Mehrere Soldaten haben ihre Maschinengewehre auf uns gerichtet, während sie uns zurück zur Tür schieben.
»Wir gehen ja schon!«, sagt Peeta und schubst den Friedenswächter, der mich bedrängt, weg. »Wir haben verstanden, okay? Komm, Katniss.«
Er legt mir einen Arm um die Schultern und führt mich zurück ins Justizgebäude. Der Friedenswächter folgt uns im Abstand von ein oder zwei Schritten. Kaum sind wir drin, schlägt die Tür zu, und wir hören die Stiefel des Friedenswächters, der zurück zu der Menge geht.
Auf dem Bildschirm, der an der Wand angebracht ist, sieht man nur ein Grieselbild. Darunter warten Haymitch, Effie, Portia und Cinna mit ängstlichen, angespannten Gesichtern.
»Was ist passiert?« Effie kommt schnell auf uns zu. »Nach Katniss' wundervoller Rede hatten wir keinen Empfang mehr, und dann meinte Haymitch, er hätte einen Schuss gehört. Ich hab gesagt, das kann nicht sein, aber wer weiß? Es gibt ja überall Verrückte!«
»Es ist nichts passiert, Effie. Ein alter Lkw hatte eine Fehlzündung«, sagt Peeta ruhig.
Noch zwei Schüsse. Sie werden durch die Tür kaum gedämpft. Für wen waren die? Threshs Großmutter? Eine von Rues
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