Gefaehrliche Liebe
Tribute ein eigenes Podium errichtet worden. Auf Threshs Seite stehen nur eine alte, bucklige Frau und ein großes, muskulöses Mädchen, bestimmt seine Schwester. Auf Rues Seite ... Ich bin auf Rues Familie nicht vorbereitet. Ihre Eltern, die Trauer noch frisch in den Gesichtern. Die fünf jüngeren Geschwister, die ihr so ähnlich sehen. Der zarte Knochenbau, die leuchtend braunen Augen. Wie ein Schwärm kleiner dunkler Vögel.
Der Applaus verebbt und der Bürgermeister hält die Rede auf uns. Zwei kleine Mädchen kommen mit gigantischen Blumensträußen. Peeta sagt seine vorgefertigten Worte, und ich merke, wie ich die Lippen bewege, um das Ende zu sprechen. Zum Glück haben meine Mutter und Prim sie mir so eingetrichtert, dass ich sie im Schlaf singen könnte.
Peeta hat seine persönlichen Kommentare auf eine Karte geschrieben, aber er holt sie nicht hervor. Stattdessen erzählt er in seiner einfachen, gewinnenden Art, wie Thresh und Rue unter die letzten acht gekommen sind, wie sie mir das Leben gerettet haben - und damit auch ihm - und dass wir das nie wiedergutmachen können. Dann zögert er, bevor er etwas hinzufügt, das nicht auf der Karte steht. Vielleicht, weil er dachte, dass Effie ihm nicht erlauben würde, es zu sagen. »Auch wenn es in keiner Weise Ihren Verlust ersetzen kann, möchten wir zum Zeichen unseres Danks den Familien der Tribute aus Distrikt 11 zeit unseres Lebens jedes Jahr einen Monatsanteil unseres Preises zukommen lassen.«
Unwillkürlich halten die Zuschauer die Luft an und sprechen leise miteinander. Was Peeta getan hat, ist ohne Beispiel. Ich weiß nicht einmal, ob es legal ist. Das weiß er vermutlich auch nicht, deshalb hat er lieber gar nicht erst gefragt. Die beiden Familien starren uns nur sprachlos an. Ihr Leben hat sich für immer verändert, als sie Thresh und Rue verloren haben, doch dieses Geschenk wird es erneut verändern. Von dem Monatspreis eines Tributs kann eine Familie mühelos ein Jahr lang leben. Solange wir leben, werden sie keinen Hunger leiden.
Ich schaue zu Peeta und er lächelt mich traurig an. Ich habe Haymitchs Stimme im Ohr:
»Du könntest es viel schlechter treffen.«
In diesem Augenblick ist es unmöglich, sich vorzustellen, wie ich es besser treffen könnte. Das Geschenk ... es ist großartig. Als ich mich auf die Zehenspitzen stelle und ihn küsse, wirkt das kein bisschen gezwungen.
Der Bürgermeister kommt zu uns und überreicht jedem von uns eine Tafel, so groß, dass ich meinen Blumenstrauß ablegen muss, um sie zu halten. Die Zeremonie ist schon fast vorüber, als ich merke, wie eine von Rues Schwestern mich anstarrt. Sie muss etwa neun sein und ist fast Rues Ebenbild, sie steht sogar genauso da, die Arme leicht abgespreizt. Trotz der guten Neuigkeiten über den Preis wirkt sie nicht froh. Im Gegenteil, sie schaut mich vorwurfsvoll an. Ist es, weil ich Rue nicht gerettet habe?
Nein. Es ist, weil ich ihr immer noch nicht gedankt habe,
denke ich.
Eine Welle der Scham überspült mich. Das Mädchen hat recht. Wie kann ich stumm und tatenlos dastehen und Peeta alles sagen lassen? Wäre Rue die Siegerin gewesen, hätte sie meinen Tod niemals sang- und klanglos hingenommen. Ich denke daran, wie ich sie in der Arena mit Blumen bedeckt habe, wie wichtig es mir war, dass ihr Tod nicht unbemerkt blieb. Doch diese Geste bedeutet gar nichts, wenn ich sie jetzt nicht untermauere.
»Warten Sie!« Ich stolpere nach vorn, drücke die Tafel an die Brust. Ich habe meine Redezeit verstreichen lassen, doch jetzt muss ich etwas sagen. Das bin ich Rue einfach schuldig. Selbst wenn ich meinen Preis ganz den Familien überlassen hätte, wäre das keine Entschuldigung für mein Schweigen am heutigen Tag. »Bitte warten Sie.« Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, aber als ich erst einmal rede, strömen mir die Worte aus dem Mund, als hätte ich sie schon lange im Kopf gehabt.
»Ich möchte den Tributen von Distrikt 11 danken«, sage ich. Ich schaue zu den beiden Frauen auf Threshs Seite. »Ich habe nur ein einziges Mal mit Thresh gesprochen. Für ihn hat das ausgereicht, um mich zu verschonen. Ich kannte ihn nicht, aber ich hatte immer Hochachtung vor ihm. Vor seiner Stärke. Weil er die Spiele nach seinen eigenen Regeln gespielt hat und sich nichts hat aufzwingen lassen. Die Karrieros wollten ihn von Anfang an auf ihre Seite ziehen, aber er wollte nicht. Dafür hatte er meine Hochachtung.«
Zum ersten Mal hebt die bucklige Frau - ist sie Threshs Großmutter? -
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