Gefährliche Nebenwirkung (German Edition)
nehme ich Jonathons BlackBerry vom Tresen. Der Bildschirm ist durch ein Passwort gesichert. Hat er schon immer ein Passwort dafür gehabt? Er ist Leiter einer Bank. Natürlich hat er ein Passwort. Ich tippe verschiedene Kombinationen von Geburtstagen und anderen wichtigen Daten ein. Nichts funktioniert. Die Sonne und der Strand warten auf mich. Unter den Shorts trage ich meinen Bikini und dazu mein Tanktop, damit ich auf dem Rückweg noch mal schnell ins Meer springen kann. Ich hatte ja versprochen, zum Frühstück frischen Orangensaft und Omeletts zu machen. Oliver wird vielleicht trotzdem wieder schlechte Laune haben, egal, was ich tue, aber ich bin seine Mutter und ihn gut ernährt zu sehen, befriedigt irgendwo tief in meinen Gehirnwindungen einen Urinstinkt.
Draußen ertönt eine Pfeife und ein Mann brüllt »Agua!«, als würde er verdursten. Ich werfe einen Blick über die Balkonbrüstung und sehe einen Pick-up den Hügel herunterrumpeln, die Ladefläche voller Plastikkrüge, in denen das kühle Nass schwappt, das für die Wasserspender bestimmt ist, von denen einer auch in unserem Apartment steht. Auf der anderen Seite der Straße winkt eine Frau aus dem Fenster. Der Fahrer pfeift erneut, hält, steigt aus und schleppt einen Plastikbehälter zu ihrer Tür. Die Luft füllt sich mit dem süßen Duft der Blüten einer Tuberose, einer mexikanischen Zierpflanze, die in einem glasierten Blumentopf auf dem Balkon blüht. Ich sehe hinauf in den blauen Himmel. Nachdem ich monatelang unter einererdrückend grauen Wolkendecke gelebt habe, scheint es mir, als habe jemand den Himmel aufgerissen, um mir die wahren Farben der Welt zu zeigen. Indigoblau, Kirschrot, Limettengrün. So warm, so intensiv, sie vibrieren geradezu.
Ich lege das BlackBerry wieder an seinen Platz und verlasse das Apartment.
Der Sand gibt sanft unter meinen Laufschuhen nach. Händler schleppen bereits ihre bunten Schalen und handgemachtes Flechtwerk den blendend weißen Strand hinunter. »Möchten Sie etwas, Señora?«, rufen sie. Angestellte des Restaurants haben den zertrampelten Sand unter den Palapas der Tiki Bar glatt geharkt. Andere bringen rote und blaue Sonnenschirme zum Strand, dann gehen sie wieder zurück, um die gelben Tische und Stühle zu holen und sie darunter zu verteilen.
Ein amerikanischer Tourist mit einem Fernglas berichtet einer kleinen Gruppe, dass er einen Wal entdeckt habe. »Zwei!«, schreit er und alle greifen gleichzeitig nach dem Fernglas, während ich vorbeilaufe.
Je länger ich jogge, den tiefblauen Himmel über mir, desto stärker und glücklicher fühle ich mich. Warum machen wir das nicht jedes Jahr? So teuer ist es nicht, wenn man bedenkt, wie viele Pesos ein Dollar wert ist. Es ist doch albern, nicht einfach in eine Wohnung hier zu investieren und alle paar Monate herunterzufliegen. Vielleicht sogar mal übers Wochenende, einfach nur, um kurz Energie zu tanken. Ich spüre deutlich dieses Hoch, das sich immer beim Laufen einstellt, und mein Atem wird gleichmäßig. In Gedanken kehre ich wieder in jene Zeit zurück, als Oliver noch Ollie hieß. Als die Tage noch von Umarmungen und Kitzelattacken erfüllt waren und ich ihmnach seinem Bad vorgelesen habe –
Der Schenkbaum
und
Wo die wilden Kerle wohnen
–, während ich den honigsüßen Duft seines Haars und seiner Haut eingeatmet habe. Als wir uns das erste Mal zusammen
Der Zauberer von Oz
angesehen haben, hat er sich auf dem Sofa kerzengerade hingesetzt und behauptet, dass Dorothy genauso klingen würde wie ich. »Ihr habt genau die gleiche Stimme, Mami, hör doch.« Ich dachte, es wären nur Dorothys dunkles Haar und ihre hellen Augen gewesen, die ihn veranlasst hatten, zu glauben, wir würden gleich klingen. Aber als er sagte »Ich liebe ihre Stimme. Ich liebe deine Stimme, Mami«, blickte ich in seine riesigen graublauen Augen, betrachtete all die Sommersprossen auf seiner kleinen Nase und war plötzlich ganz begeistert, dass ich so klang wie Judy Garland.
Nur weil er inzwischen sechzehn ist, muss das ja nicht heißen, dass er seine Eltern hasst. Als ich sechzehn war, lebte mein Vater bereits seit vier Jahren nicht mehr und meine Mutter war meine Lebensader, meine Retterin, ihre Arme meine Zuflucht vor den Grausamkeiten der ersten Liebe und vor besten Freundinnen, die sich im Bruchteil einer Sekunde in hinterlistige Feindinnen verwandeln konnten. Der Gedanke, dass meine Mutter gestorben ist, noch bevor Oliver geboren wurde, fühlt sich immer noch so grausam
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