Gefährliche Nebenwirkung (German Edition)
Mittag und das Schlagen von Türen, quietschende Räder von Essenwagen und Stimmen wecken Benicio. Er öffnet die Augen.
»Na, du«, sage ich.
»Hey«, antwortet er erschöpft.
Ich winke wie eine Puppe mit meiner dick bandagierten Hand. »Willkommen zurück.«
Er lächelt. So wunderschön. So schläfrig, und ich weiß, er ist so warm unter seiner Decke. Ich brauche alle meine Beherrschung,um nicht zu ihm zu krabbeln. Ich bin über all zusammengeflickt. Meine Rippen schmerzen, dass ich es im Stehen kaum aushalten kann. Jeder Atemzug tut weh.
Eine Schwesternhelferin schiebt Benicios Infusionsständer zur Seite und hilft ihm, sich aufzusetzen. Ich kann sehen, wie schwach er ist. Er bewegt sich vorsichtig, langsam, als bestünde er nur aus Prellungen. Langsam wird sein Blick klarer.
»Mittagessen«, sagt er. Das erste verständliche Wort aus seinem Mund.
Die junge Frau schiebt den verstellbaren Tisch so über sein Bett, dass er das Tablett mit der Fleischbrühe und dem Kartoffel brei direkt vor sich hat.
Dann reicht mir die junge Frau mein Essen und eilt ins nächste Zimmer.
Ich beobachte, wie Benicio Stück für Stück wieder zu mir zurückkehrt.
Ich probiere die Suppe und spüre, wie er mich beobachtet. Ich weiß, was er sagen wird.
»Wag es nicht«, komme ich ihm zuvor und erhebe meine Puppenhand. »Nicht ein Wort. Ich werde aufplatzen, wenn ich lachen muss.«
»Eigentlich wollte ich nur sagen: Guten Appetit.« Er sagt es auf Deutsch.
»Sicher wolltest du das. Dabei weißt du ja nicht mal, was es bedeutet.«
»Natürlich weiß ich das. Es bedeutet, lass es dir schmecken. Auch wenn du in diesem Zimmer gefangen bist und von einem Tablett essen musst.«
41
Es sind jetzt bereits vier Jahre, aber ich werde des Anblicks nie müde. Die Ziegeldächer, besonders wenn sie mit Schnee bedeckt sind, der gewundene Fluss, der die Stadt in zwei Hälften teilt, die Kirchtürme und Kuppeln und Bäume und dahinter die Alpen,
meine
Alpen, wie ich sie inzwischen nenne. Sie sind immer da, wenn ich morgens die Augen öffne.
Ich setze mich im Bett auf, leise, das Kissen in meinem Rücken. Jeden Moment wird die Sonne über dem Fraumünster aufgehen, sich in der Turmspitze spiegeln, ihre Strahlen durch das Schlafzimmerfenster schicken und über Benicios Gesicht streichen, das auf dem Kissen neben mir liegt. Er wird den Höcker auf seiner Nase kratzen, als würde das goldene Licht ihn dort kitzeln. Wenn er aufwacht, wird er sich daran nicht mehr erinnern. Ich beobachte ihnen, ohne ihn zu berühren. Was allerdings nicht leicht fällt.
Bald wird Benny hereingetappt kommen und unter unsere Decke schlüpfen, die Reste seines gelben Kuschelbären in der Hand, dessen Fell so abgewetzt ist, dass es eigentlich nur noch aus einem Netz besteht, in dem sich kaum noch etwas vonder Baumwollfüllung befindet. Benny ist ein Morgenmensch wie ich. An manchem Morgen machen wir allein in der Küche zusammen Pfannkuchen mit Schokoladenstreusel, während alle anderen noch schlafen. Benny erklärt gern Pinto, unserer brünetten Promenadenmischung mit den langen Ohren, wann man die Streusel auf den Pfannkuchen streut und dass man warten muss, bis er Blasen schlägt, bevor man ihn umdreht.
Heute ist ein besonderer Tag. Ich denke an Waffeln mit Wildbeeren. Benny liebt es, Neues in der Küche auszuprobieren. Er hat seine eigene Meinung über Salz und Porree und Pfeffersalami. Er wird noch mal Koch. Am meisten Spaß macht es ihm, die Sahne zu schlagen.
Wenn Benny auf bestimmte Weise das Gesicht verzieht, erscheint Jonathon in seinen Augen. Als es das dritte Mal geschah, musste ich wegsehen. Aber das war vor Jahren. Heute sehe ich in seinem Gesicht, in der Form seiner Hände und seines Mundes Oliver vermischt mit einer helleren Version von Benicio. Als Benicio aus dem Zug stieg und den verschlafenen Benny auf seiner Hüfte trug, konnte ich meine Liebe zu dem Jungen nicht mehr verleugnen. Sie war einfach da. Instinktiv. Er war Olivers Bruder. Benicios Neffe. Am liebsten hätte ich in seine speckigen Arme und Füße gebissen. Am liebsten hätte ich ihn aufgefressen.
Benny wird heute fünf. Waffeln mit Wildbeeren und Schlagsahne. Danach eine kurze Segeltour um den See. Irgendwann unterwegs wird der Anruf kommen. Benny versteht, so wie er es in seinem Alter verstehen kann, dass er eine leibliche Mutter namens Isabel hat. Aber er hat mich immer Mutti genannt und ich habe ihn immer als meinen Sohn bezeichnet. Und tief inmeinem Inneren ist er das auch, da
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