Gefährliche Praxis
der Psychiatrie relativ wenig Vertrauen entgegenbringst.«
»Als therapeutisches Werkzeug ist sie, glaube ich, reichlich plump, und das ist noch freundlich ausgedrückt. Ich habe noch eine Menge anderer Einwände gegen sie. Aber was hat das damit zu tun, daß ein fähiger Psychiater für etwas verurteilt wird, was er nicht getan hat? Es gibt viele Dinge, die ich an Emanuel nicht bewundere, aber ich empfinde bei ihm das, was Emerson über Carlyle gesagt hat: ›Wenn Genie billig zu haben wäre, könnten wir wohl ohne Carlyle auskommen, aber bei unserer gegenwärtigen Bevölkerung können wir nicht auf ihn verzichten‹.«
»Darf ich fragen, wo du anzufangen gedenkst?«
»Es wäre mir lieber, wenn du es nicht tätest. Hast du irgend etwas über die anderen Patienten herausbekommen?«
»Der Zehn-Uhr-Patient heißt Richard Horan. Achtundzwanzig, unverheiratet, arbeitet für eine Werbefirma. Hatte vor, seine Stunde so bald wie möglich zu verlegen, weil sie weder für ihn noch für Emanuel günstig lag, obwohl ich glaube, entre nous, Werbefirmen sind daran gewöhnt, daß ihre Angestellten Analyse machen. Wir leben in einer faszinierenden Zeit; nichts geht mehr ohne Analyse. Der Zwölf-Uhr-Patient unterrichtet Englisch, das hörst du sicher gerne, und zwar an einem der Colleges in der City. Ich kann mich nicht erinnern wo, aber er muß jedesmal eine lange U-Bahn-Fahrt auf sich nehmen. Auch unverheiratet, und es wirkt nicht so, als würde sich das bald ändern, wenn der Eindruck des Kriminalbeamten richtig ist; vielleicht auch nicht. Dein Emanuel schweigt, wie üblich, obwohl ich seinen Standpunkt schon respektieren kann. Offenbar kann er über die Patienten nicht reden, die noch nicht ermordet wurden. Der Name dieses Patienten ist Frederick Sparks, wie du weißt, aber ich schicke dir eine Kopie der Unterlagen; dann wirst du in der Lage sein, mich zu erpressen. Habe ich dir damit mein Vertrauen bewiesen?«
»Kannst du mir auch ihre Privatadressen besorgen?«
»Du kannst alles haben, was in meiner Macht steht. Laß mich nur immer in großen Zügen wissen, was du gerade unternimmst, ja? Und wenn du eine Nachricht erhältst, daß du dich mit einem mysteriösen Mann wegen einer interessanten Information in einer dunklen Straße treffen sollst, dann geh nicht hin.«
»Mit Frotzeleien«, sagte Kate frotzelnd, »kommst du bei mir nicht weiter. Kannst du mir noch einen Kaffee bestellen?«
7
A m Montag war das Leben zwar noch nicht wieder normal, aber von außen schien es zumindest so. Emanuel kehrte wieder – ohne seine Elf-Uhr-Patientin – zu seiner Tätigkeit als Psychiater zurück. Nicola ging zu ihrer psychoanalytischen Sitzung. Kate, die sich zur Disziplin gerufen und das Wochenende über ihre Vorlesungen vorbereitet hatte, ging wieder an ihr Pult. Den Samstagabend hatte sie mit einem Maler verbracht, der nur französische Zeitungen las, an Mord kein Interesse zeigte und über nichts als die Kunst Theorien verbreiten konnte. Das war ihr eine große Hilfe.
Aber der Hauptgrund, warum die Bauers aus dem Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und dem starren Blick der Publizität rückten, war ein schreckliches Verbrechen in Chelsea: Ein Verrückter hatte ein vierjähriges Mädchen zu sich gelockt, vergewaltigt und ermordet. Die Polizei und die Zeitungen konzentrierten all ihre Kräfte darauf, zumindest für den Augenblick. Der Verrückte wurde eine Woche später festgenommen, ohne größere Schwierigkeiten, was für Kate einigen Trost bedeutete. Verrückte, schloß sie, werden also normalerweise gefangen. Daher konnte Janet Harrison nicht von einem Verrückten ermordet worden sein. Diese Glanzleistung an Unlogik hatte für sie etwas sehr Beruhigendes.
Am Montagmorgen um zehn Uhr hielt Kate eine Vorlesung über ›Middlemarch‹. Hatte überhaupt etwas eine Bedeutung neben der Tatsache, daß die Phantasie Welten wie ›Middlemarch‹ erschaffen konnte, daß man lernen konnte, diese Welten zu verstehen und die Strukturen, auf die sie sich stützten? Als Kate den Roman am Abend zuvor noch einmal gelesen hatte, war sie auf einen Satz gestoßen, der ihr merkwürdig zutreffend erschien: »Eigentümlich, daß manche von uns, die schnell ihren Blickwinkel wechseln können, hinauszusehen vermögen über unsere Verblendetheiten und sogar dann, wenn wir uns auf Höhenflügen befinden, den Blick aufs Einfache gerichtet behalten, dort, wo unser eigentliches Selbst ruht und unserer harrt.« Gewiß, dieser Satz hatte nichts mit dem
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