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Gefährliche Praxis

Gefährliche Praxis

Titel: Gefährliche Praxis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Cross
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gegenwärtigen Fall zu tun: Ein Mord war keine Verblendetheit. Und doch merkte sie nach ihrer Vorlesung, daß sie während ihres Vortrags über ›Middlemarch‹ nichts anderes hatte denken können. Unser eigentliches Selbst, dachte sie, findet sich in der Arbeit wieder, die unsere ganze Aufmerksamkeit gefangen hält. Emanuel hatte, wenn er am Kopfende seiner Couch saß und zuhörte, vielleicht die gleiche Erfahrung gemacht. Kate wurde klar, daß es nur wenige Leute gab, die über ihr »eigentliches Selbst« verfügten, und daß Emanuel, als einer von ihnen, gerettet werden mußte.
    So lenkte sie ihre Schritte nach der Vorlesung zum Wohnheim, in dem Janet Harrison gelebt hatte. Auf dem Campus lebten nicht viele Studenten, wie Kate dem Kriminalbeamten namens Stern erzählt hatte, aber die Universität hielt ein Heim für die Studentinnen bereit, die auf eigenen Wunsch oder auf Drängen ihrer Eltern in ordentlicher und kontrollierter Umgebung wohnen wollten. Eine Wohltat bedeutete das Heim auch für jene Studentinnen, die sich nicht um Haushalt und dergleichen kümmern wollten, und wahrscheinlich war das der Grund, weshalb Janet sich entschieden hatte, dort zu wohnen.
    Kate hatte sich einen äußerst komplizierten Plan ausgedacht, nach dem sie das Wohnheim in Angriff nehmen wollte. Dazu gehörten Spaziergänge durch die Korridore, Gespräche mit dem Hausmeister und den Zimmermädchen und vielleicht ein paar vertrauliche Informationen von der Leiterin des Heims. Aber das sollte sich alles erübrigen, als Kate auf den Eingangsstufen mit Miss Lindsay zusammenstieß. Letztes Jahr hatte Miss Lindsay bei ihr als Studentin einen Kurs über »Schreiben für Fortgeschrittene« belegt, den sie von einem anderen Professor für die Zeit seiner Abwesenheit übernommen und bei seiner Rückkehr mit der größten Erleichterung wieder abgegeben hatte. Der Kurs hatte trotzdem seine lichten Momente gehabt, und Miss Lindsay, die als Hauptfächer Latein und Griechisch studierte, hatte am meisten dazu beigetragen. Kate hatte in der Tat jetzt noch ihren Spaß an der lateinischen Übersetzung von ›Twinkle, Twinkle, Little Star‹, die mit »Mica, mica, parva Stella, Micor quae nam sis, tarn bella« begann und die Miss Lindsay bei irgendeiner ihr inzwischen entfallenen Gelegenheit vorgetragen hatte. Kates eigene Lateinkenntnisse waren, trotz einer faszinierenden Lektüre von Vergils ›Aeneis‹ vor einigen Jahren, irgendwo in der Gegend von »hie, haec, hoc« stehengeblieben.
    Miss Lindsay gehörte zu der seltenen Spezies von Studenten, die zwanglos mit einem Professor reden kann, ohne jemals die Grenze zur Vertraulichkeit zu überschreiten. Jetzt folgte sie Kate gern in die Halle und änderte ohne zu zögern ihre Pläne. Kate, die sie brauchte, protestierte nicht sehr überzeugend. Ihr wurde klar, und das nicht zum erstenmal, daß bei der Aufdeckung eines Mordes Kants kategorischer Imperativ ständig ignoriert werden mußte. Kate fragte Miss Lindsay, ob sie Janet Harrison gekannt habe.
    »Oberflächlich«, sagte Miss Lindsay. Falls die Frage sie überrascht hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. »Wir reden natürlich seit Tagen über nichts anderes. Tatsächlich haben wir das einzige Mal, als wir uns unterhielten, über Sie gesprochen. Sie waren offenbar die einzige Lehrerin, die Janet aus ihrer gewohnten akademischen Mattigkeit aufwecken konnte. Irgendwas mit moralischen Verpflichtungen hat sie besonders betroffen gemacht, soweit ich mich erinnere.«
    »Kommt es Ihnen nicht komisch vor, daß ausgerechnet sie das Opfer eines Mordes werden sollte? Natürlich erwartet man nicht, daß irgend jemand einem Mord zum Opfer fällt, aber sie schien mir so – ich glaube, ›unbeteiligt‹ ist das Wort, das ich suche –, so gar nicht dafür geschaffen, Leidenschaften zu wecken, trotz ihrer Schönheit.«
    »Da bin ich nicht Ihrer Meinung. In der Stadt, aus der ich komme, gab es ein Mädchen, das war so wie sie, distanziert und etwas über den Dingen stehend. Doch am Ende stellte sich dann heraus, daß sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr mit einem Lebensmittelhändler zusammenlebte, von dem alle Welt geglaubt hatte, er sei glücklich verheiratet. Also kein stilles Wasser, sondern ruhige Oberfläche, unter der sich todbringende Strudel verbergen. Ich könnte mich, was Janet Harrison angeht, natürlich auch irren. Am besten reden Sie mit Jackie Miller. Sie hatte ihr Zimmer ganz in der Nähe von Janets Zimmer. Jackie gehört zu den Mädchen, die

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