Gefährliche Praxis
Jerry gerade verlassen hatte. Sie hatte bei Emanuel und Nicola angerufen, und dabei hatte sich herausgestellt, daß der Sechs-Uhr-Patient abgesagt hatte; ob er ganz das Feld zu räumen gedachte oder ob es die üblichen psychoanalytischen Zweifel waren, die ihn abhielten, war noch nicht ganz klar. »Am besten kommst du zu uns«, hatte Nicola am Telefon gesagt, »und wir setzen uns auf Emanuels Couch und sorgen dafür, daß nicht wieder jemand eine Leiche auf ihr ablegt.« Und nachdem Kate nicht mit entsprechenden Anspielungen gespart hatte, hatte Nicola ihre Einladung auch noch auf das abendliche Dinner ausgedehnt.
Kate fand sie im Wohnzimmer, von wo aus, so hatten sie beschlossen, man den Eingang zur Praxis und das eventuelle Einschmuggeln von Leichen beobachten konnte. Kate stellte ihr Mitbringsel, offensichtlich eine Flasche, auf den Tisch. »Nicht für euch«, sagte sie zu Nicola. »Die ist für eine Party, zu der ich später gehe, um Frederick Sparks zu treffen.« Sie fing den Blick von Emanuel auf. »Hat Janet Harrison in ihren Stunden bei dir jemals einen Daniel Messenger erwähnt?« fragte Kate.
»Das hat mich die Polizei auch schon gefragt«, sagte Emanuel.
»Ach, mein Lieber, ich vergesse doch immer wieder die Polizei. Wird sie lästig?«
»Also«, sagte Nicola, »dieser Daniel Messenger ist eine Hilfe, wer immer er sein mag. Ich habe aus einem dieser Kriminalbeamten herausbekommen, daß er Genetiker ist, jedenfalls schließt Emanuel das aus meiner bruchstückhaften Beschreibung. Aber offensichtlich ist er mit der Erforschung einer rätselhaften Krankheit beschäftigt, die nur Juden bekommen oder die nur Juden nicht bekommen, irgendwo in einer Gegend in Italien (glaube ich), und offenbar werden sie, wenn sie den Schlüssel zu dieser schwer beweisbaren Toleranz beziehungsweise Widerstandsfähigkeit gefunden haben, einiges mehr über Vererbung wissen. Ob die Polizei uns aber glaubt, daß weder Emanuel noch ich jemals von ihm gehört haben, das weiß sie wohl selber noch nicht.«
Kate sah Emanuel an. »Ich nehme an, sie hat nie von ihm oder von irgendwelchen genetischen Theorien gesprochen, oder?« Emanuel schüttelte den Kopf. Kate sah, wie deprimiert er war, und ihr Herz flog ihm entgegen, aber sie konnte nichts anderes tun, als Nicola dabei zu helfen, auf ihn einzureden. Kate hatte erfahren, daß Nicolas Mutter die Kinder in ihr Landhaus geholt hatte. Sie hatten hier zuviel mitbekommen, und sie eine Woche nach dem Mord wegzuschicken, sah nicht so sehr wie eine Kapitulation vor dem Schicksal aus.
»Dr. Barrister hat freitags keine Sprechstunde, nicht wahr?« fragte Kate Nicola.
»Nein«, sagte Nicola. »Warum?«
»Ich bin gekommen, um Fragen zu stellen«, sagte Kate knapp, »und nicht, um welche zu beantworten.«
»Sind denn noch Fragen offen?« sagte Emanuel.
»Sehr viele«, sagte Kate bestimmt. »Aber du wirst keine von ihnen der Polizei gegenüber wiederholen. Und auch sonst niemandem gegenüber«, fügte sie streng hinzu und sah Nicola an. »Hier wären einige Fragen: Wer hat an dem Morgen, als Janet Harrisons Zimmer durchsucht wurde, die Uniform des Hausmeisters gestohlen?« Emanuel und Nicola sahen sie verblüfft an, aber sie redete schnell weiter. »Warum wurde ihr Zimmer durchsucht? War es bloß, wie irgendein Trottel meinte, ein frustrierter Kerl, der an eines ihrer intimeren Kleidungsstücke herankommen wollte?«
»Bist du betrunken?« fragte Emanuel.
»Unterbrich mich nicht. Wenn das stimmt, wer ist dieser Mann? Warum hat Janet Harrison ein Testament hinterlassen? Das ist doch ziemlich merkwürdig für eine junge, unverheiratete Frau. Wer ist dieser Daniel Messenger, daß sie ihm ihr Vermögen vermacht – oder er ihr seines? Obwohl deine ehemalige Patientin, lieber Emanuel, anscheinend ein höchst umsichtiges Leben geführt hat, um es einmal mild auszudrücken – mit einem Mann ist sie jedenfalls gesehen worden. Wer war das? Wer hat sich mit ihr getroffen?«
»Wenn du nicht weißt, mit wem sie sich getroffen hat, wieso weißt du, daß sie mit jemandem gesehen worden ist?« fragte Nicola.
»Hör auf, mich zu unterbrechen. Mach dir meinetwegen Notizen oder hör einfach zu, jedenfalls laß mich ausreden. Ich bin dabei, meine Gedanken zu sortieren. Warum beschloß Janet Harrison, Englische Literatur zu studieren, nachdem sie mit Geschichte angefangen und einen Umweg über eine Schwesternausbildung gemacht hatte? Warum Krankenschwester? Warum ging sie nach New York, um hier Englische
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