Gefaehrliche Sehnsucht
ihr Suppe gebracht und sie gestützt hatte, wenn sie zu müde war und nicht mehr aus eigener Kraft stehen konnte. Der, der immer wieder für sie gekämpft hatte. Diesmal musste sie für ihn kämpfen. Sie musste ihn vor sich selbst beschützen.
Frank Collins hätte es fast bis zur Falltür geschafft, aber die schlug in letzter Sekunde krachend zu und Claire hörte, wie das Schloss mit einem summenden Geräusch einrastete. »Fassen Sie es nicht an!«, schrie sie, als Shanes Vater die Hand nach der Tastatur ausstreckte. »Es steht unter Strom!«
»Es ist der einzige Weg nach unten«, sagte Oliver, während er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht hochrappelte. »Jemand muss es aufmachen.«
»Es ist nicht der einzige Weg«, erwiderte Claire und sah Amelie an. »Es gibt noch einen Hintereingang, nicht wahr?«
Amelie zögerte, dann nickte sie. Sie drehte sich um und ging zum Portal in der Wand. Rudolphs Leiche lag dort - na ja, die eine Hälfte - und sie schob sie beiseite. Dann stellte sie sich vor den schwarzen Durchgang. Farben wechselten sich ab, pulsierten und verwandelten sich wieder in Dunkelheit.
Claire stellte fest, dass sie jemanden an der Hand hielt. Es stellte sich heraus, dass es Shane war, der neben sie getreten war. Sie spürte, wie angespannt seine Muskeln waren und wie schnell sein Puls ging. Ihr eigener schlug bestimmt doppelt so schnell.
»Hier«, sagte Amelie. Nichts schien anders zu sein an der Dunkelheit auf der anderen Seite des Durchgangs, doch Claire spürte, dass eine Art Energie davon ausging. »Ich warne euch, das ist kein sicherer Weg. Geht schnell. Ich muss das Portal offen halten, sonst könnte er auf die Idee kommen, es zu verschließen«
Oliver warf ihr einen zweifelnden Blick zu, dann stürzte er an ihr vorbei in die Dunkelheit, die ihn verschlang wie eine Tintenpfütze. Frank und West folgten ihm, danach Claire und Shane. Bevor sie hindurchtraten, zögerte Shane und blickte über die Schulter.
Michael war genau hinter ihnen - er war blass, ein wenig unsicher auf den Beinen und stützte sich auf Eve. »Ich bin bei dir, Bro«, sagte er. »Geh jetzt.«
»Sind wir ganz sicher, dass das ein guter Plan ist?«, fragte Shane Claire leise. Die Tatsache, dass er ausgerechnet sie fragte, verursachte ein leichtes Schwächegefühl bei ihr; es fühlte sich an, als würde er ihr... vertrauen.
Ja, es war tatsächlich Vertrauen. Vertrauen, das sie sich nicht verdient hatte, aber irgendwie fühlte es sich unheimlich wertvoll an. Claire versuchte, zuversichtlich zu klingen. »Ich glaube schon«, sagte sie. »Aber pass auf dich auf, okay?«
»Nee, Michael passt auf mich auf.« Er sah ihr tief in die Augen: »Ich passe auf dich auf.«
Shane sprang in die Dunkelheit und nahm Claire mit sich.
Auf der anderen Seite war es einfach schwarz – eine Dunkelheit, bei der sich die Panik zu einem Knoten in Claires Magen zusammenzog. Sie kannte die Dunkelheit. Sie war früher schon dort gewesen.
»Sachte«, sagte Frank Collins und sie spürte, wie seine Hand sie an der Schulter packte, damit sie stillhielt. »Beweg dich nicht.«
»Da sind Löcher im Boden«, sagte sie. »Gruben. Können Sie sie sehen?« Sie hoffte es; alle Vampire, die sie kannte, konnten es. Sie, Shane und Eve waren so blind, wie man nur sein konnte.
»Ja, sehe ich. Wartet, ich habe Licht.« Jetzt sprach er direkt hinter ihr. Ein reiner weißer Lichtkegel blitzte auf, der auf Felsen und blasse, kantige Vorsprünge aus Quarz fiel, scharf wie Rasierklingen. Sie befanden sich in einer großen Höhle, in der es vollkommen still war bis auf das Echo ihrer Stimmen und Bewegungen. »Niemand bewegt sich.«
Frank hatte recht, denn der Bereich, durch den sie hereingekommen waren, war die einzige sichere Stelle in der Höhle. Tintenschwarze Löcher im felsigen Boden führten, soweit Claire wusste, bis zum Mittelpunkt der Erde und auf der anderen Seite wieder hinaus. Nicht nur das - sie wusste auch aus Erfahrung, dass der Fels selbst dort, wo er massiv aussah, wahrscheinlich nicht fest war. Es war wie ein Irrgarten und das letzte Mal, als Claire hier war, hatte Myrnin ihr hindurchgeholfen. Jetzt würde er das nicht tun, er würde versuchen, sie in den Tod zu stürzen, zusammen mit allen, die sie begleiteten. Sie schluckte schwer. Weiter hinten sah sie eine Ringschraube, die jemand tief in den Felsen getrieben hatte und an der eine Silberkette hing. Myrnin war hier einmal gefangen gehalten worden, als er mehr... er selbst war. Aber daran würde er
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