Gefaehrliche Sehnsucht
das Herz. Warum wollte er nicht mit ihr reden? Was hatte sie getan? Das tat weh, richtig weh. Sie hatte das Gefühl, als … als würde sie ihn noch einmal verlieren. Doch sie hatte es satt, ihn zu verlieren.
Claire ging wieder zurück zum Esstisch. Shane war bereits nach oben verschwunden und seine Tür schlug krachend zu. Michael und Eve hielten den Blick auf den Teller gesenkt. »Ungeschickt«, sagte Eve schließlich.
Michael schüttelte den Kopf. »Er hat seinen Dad verloren. Das tut weh.«
»Ich weiß«, sagte Eve scharf. »Ich habe das auch schon durchgemacht.«
»Tut mir leid. Ich hab ja nur gemeint...«
»Ich weiß«, seufzte Eve und fasste nach seiner Hand. »Ich weiß. Sorry. Ich bin nur ein bisschen ... schräg drauf. Ich glaube, das sind wir alle.«
»Tatsache ist, dass er seinen Dad schon vor langer Zeit verloren hat. Vielleicht als seine Schwester gestorben ist. Vielleicht als Frank... ähm...« Claire wusste nicht so recht, wie sie es ausdrücken sollte.
Doch Michael wusste es. »Als er umgewandelt wurde.«
»Ja«, sagte sie. »Ich glaube aber nicht, dass er sich damit je auseinandergesetzt hat. Jetzt ist er direkt damit konfrontiert. Er kann es nicht mehr verdrängen. Sein Dad ist einfach... tot.«
»Das ist es nicht«, kam es von der Treppe her. Alle zuckten zusammen, sogar Michael, der ihn wohl auch nicht hatte kommen hören. Shane konnte ziemlich leise sein, wenn er wollte. »Es liegt nicht daran, dass er tot ist. Das Problem ist: Ich kannte meinen Dad. Ich hatte Angst vor ihm und dann wollte ich ihm alles recht machen und dann habe ich ihn gehasst, weil ich dachte, er wäre absolut böse, vor allem nachdem er ein Vamp geworden ist. Aber das stimmt nicht. Ich habe ihn verkannt. Er ist uns zu Hilfe gekommen und ist dabei gestorben, um uns zu retten.« Alle sahen ihn schweigend an. Shane setzte sich auf die Stufen. »Der Punkt ist«, sagte er, »dass es jetzt zu spät ist, ihm zu zeigen, dass ich ihn liebe. Das tut weh.«
Claire stand auf und nahm ihren Teller, aber Eve nahm ihn ihr ab. »Geh«, sagte sie. »Ich mach das schon. Aber du schuldest mir einen Wäschedienst.«
Claire nickte und ging die Treppe hinauf. Shane hob den Kopf und ihre Blicke trafen sich. Sie streckte ihm die Hand hin.
Nach einer kleinen Ewigkeit nahm er sie und stand auf. »Weißt du, sogar als ich dich nicht erkannt habe, wollte ich dich kennenlernen«, sagte er. »Deshalb hast du mich jetzt wohl am Hals. Tut mir leid.«
»Mir tut es nicht leid«, sagte Claire und brachte ihn nach oben.
Ihr Handy klingelte gegen vier Uhr morgens, es vibrierte auf dem Nachttisch und sie tastete verschlafen danach. Claire wand sich vorsichtig unter Shanes schwerem Arm hervor und schlüpfte aus dem Bett. Sie schnappte sich ihren Morgenmantel und ging hinaus in den Flur, um ranzugehen.
Das Display zeigte Myrnin an. Einen Moment lang kniff Claire die Augen zu, dann klappte sie das Handy auf und sagte: »Es ist vier Uhr morgens und es war nicht gerade ein leichter Tag.«
Myrnin sagte: »Ich kann die Grenzen errichten.«
Die Art, wie er das sagte, gab ihr zu denken, denn es klang nicht manisch, nicht verrückt; es war einfach nur … die Feststellung einer Tatsache. »Echt? Wie denn? Das ganze Ding war … zerstört.«
»Ja«, sagte er. »Das stimmt. Aber wie ich dir einmal gesagt habe, war die Maschine nur ein Unterstützungssystem. Ein Verstärker. Der wichtige Teil bei der Errichtung der Grenzen und der Gedächtniskontrolle ist nicht die Maschine, sondern das Gehirn.«
»Myrnin...«Claire hätte am liebsten geschrien, mit dem Telefon geworfen, etwas Verrücktes getan. Aber sie tat es nicht. Sie schluckte alles und zwang sich dazu, sehr behutsam zu sagen: »Myrnin, ich stecke mein Gehirn nicht in ein Glas, um dir bei Amelie aus der Patsche zu helfen. Auf keinen Fall.«
»Das weiß ich«, sagte Myrnin. »Das brauchst du auch nicht.« Claire holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Brauche ich nicht?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Komm ins Labor«, sagte er. »Komm jetzt gleich.«
Er legte auf. Claire sah aus kleinen, verschlafenen Augen auf das Handy, dann ging sie in ihr Zimmer. Sich im Dunkeln leise anzuziehen, stellte eine Herausforderung dar, aber sie schaffte es und schlich sich dann vorsichtig die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer hüpfte sie auf einem Bein, um sich die Schuhe anzuziehen. Sie machte das Licht an und betrachtete sich im Spiegel. Sie sah aus... na ja, eben so, als wäre sie nach einer zu kurzen Nacht aus dem
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