Gefährliche Stille
hatte Elwood Farmer von den
Ereignissen der letzten Woche berichtet und wartete jetzt auf eine Reaktion.
Wir saßen auf einem Schaukelsitz auf seiner Veranda, schon fast eine Stunde.
Die Sonne verscheuchte die Morgenkälte und stärkte meine Hoffnung, mir keinen
Finger oder Zeh abzufrieren.
Farmer rauchte stumm und kontemplativ
vor sich hin, wie schon die ganze Zeit, während ich geredet hatte. Schließlich
sagte er: »Kommen Sie morgen wieder.«
»Was?«
»Morgen früh um neun.«
Er stand auf, ging ins Haus und schloss
die Tür.
15 Uhr 15
»Das alles habe ich Elwood erzählt«,
erklärte ich Will Camphouse. »Und dann hat er mir befohlen, morgen
wiederzukommen, und ist im Haus verschwunden.«
Will und ich saßen auf einer Felsnase
am Westufer des Flathead Lake, gut siebzig Meilen nördlich von St. Ignatius.
Der Himmel hatte sich wieder bezogen, und die riesige Wasserfläche lag still
und grau da, glitzerte nur gelegentlich auf, wenn ein paar Sonnenstrahlen durch
die Wolkendecke drangen. Will sagte: »Ich bin froh, dass Sie heute Nachmittag
mit mir hier raufgefahren sind. Ich wollte, dass Sie diesen See sehen, und ich
schätze, dass Sie bald abfahren werden. Elwood ist fast so weit, Ihnen zu
sagen, was Sie wissen wollen.«
»Wenn ja, hat er eine seltsame Art, es
zu zeigen.«
Er schüttelte den Kopf. »Im Grunde
nicht. Er hat sie erst mal taxiert, um rauszufinden, ob er mit Ihnen befreundet
sein will. Für uns ergibt sich Freundschaft nicht aus irgendwelchen Blutsbanden
oder äußerer Nähe; sie entwickelt sich langsam durch eine Reihe von
Interaktionen, die das wechselseitige Vertrauen testen. Aber wenn eine
Freundschaft erst mal besteht, hält sie für immer.«
»Aber Sie und ich, wir waren doch auf
Anhieb Freunde.«
»Das ist was anderes. Ich lebe in zwei
Welten, wechsle ziemlich leicht von der einen in die andere über. Elwood hat
das über weite Strecken seines Lebens auch getan, deshalb ist er in Bezug auf
Sie auch schneller zu einem Schluss gekommen, als es die meisten traditionell
lebenden Leute hier im Reservat tun würden.«
»Drei Tage — das ist schnell?«
»Es kann Monate dauern, ja sogar
Jahre.«
»Na ja, aber ich kann nicht mein ganzes
Leben hier zubringen und jeden Tag zu Elwood Farmer gehen! Ich habe schließlich
eine Firma...«
»Immer mit der Ruhe. Ich sagte ja
schon, er ist im Begriff, Ihnen zu sagen, was Sie wissen wollen.«
»Wer meine Eltern waren?«
»Das vielleicht nicht, aber vermutlich
etwas über den Besuch Ihrer Großtante in Fort Hall.«
»Es muss Fort Hall gewesen sein,
stimmts? Lemhi Valley war schon geschlossen, und Häuptling Tendoys Familie
wurde dorthin umgesiedelt. Verdammt, wenn Elwood reden will, war’s mir recht,
er würde es bald tun!«
»Ungeduldige, weiß denkende Frau.«
Wir schwiegen eine Weile. Trotz meines
Ärgers über Farmers Verhalten erfüllte es mich mit Ruhe, an diesem
wunderschönen Ort zu sitzen, das Wasser über die Felsen lecken und die Vögel
über uns schreien zu hören. Der weite Himmel von Montana, der am Vortag noch so
bedrückend auf mich gewirkt hatte, hob jetzt meine Stimmung; ich fühlte mich
auf eine beruhigende Weise mit allem verbunden — mit dem Wasser, der Erde, den
Bäumen, den Geschöpfen, die hier lebten. Mit den Menschen, die solche Orte
liebten und zu bewahren suchten.
Vor Jahren, ehe ich Hy kennen gelernt
hatte, war ich eine bekennende Großstädterin gewesen. Weiter, offener Raum
hatte mich nervös gemacht, Stille hatte mich in den Wahnsinn getrieben. Doch
Hy, ein engagierter Kämpfer für den Umweltschutz, hatte mich in die
entlegensten Winkel von Kalifornien geflogen: in die White Mountains, die
Trinity Alps, ins Death Valley. Er hatte mir gezeigt, wie tröstlich diese Weite
sein konnte, mich gelehrt, in der Stille zur Ruhe zu kommen.
»Eins noch, Sharon«, sagte Will. »Wenn
Elwood Ihnen was schenken will, weisen Sie’s nicht zurück.«
»Was sollte er mir denn schenken
wollen?«
»Ach, ein Foto. Vielleicht ein
Familienerbstück.«
»Ich kann doch nicht...«
»Sie müssen. Wir sind ein Volk, das
gern schenkt. Es kommt dabei nicht auf den Wert oder die Größe des Geschenks
an, nur darauf, dass es genau das Richtige für den Empfänger ist, und auf die
Freude am Teilen. Ein Geschenk abzulehnen ist die größte Beleidigung.«
Ich seufzte. »Da ist so vieles, was ich
nicht weiß.«
»Innerlich wissen Sie das alles. Lassen
Sie’s einfach nur langsam hervorkommen.«
»Glauben Sie, dass
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