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Gefährliche Stille

Gefährliche Stille

Titel: Gefährliche Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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in den schäbigen Vinylsitznischen, und es war schon ein gewisser Schock, als
mir klar wurde, dass ich zum ersten Mal in einem Raum mit so vielen Menschen
war, die mir ähnlich sahen.
     
    Die Moose Lane ging von der Second
Street ab: ein schmaler, ungeteerter Fahrweg mit kleinen Holzhäusern, die
gutenteils von dem flankiert waren, was John »Oldtimersammlungen« nannte. Ich
folgte ihr stadtauswärts, durch einen Kiefernwald, der mit jeder Zehntelmeile
dichter wurde. Farmers Haus stand auf einer Lichtung am Ende des Fahrwegs: eine
ordentliche Blockhütte, mit einem neuen roten Pick-up davor und einer
Rauchfahne, die aus dem Abzugsrohr kam. Ich parkte neben dem Pick-up, blieb
erst noch im Wagen sitzen und versuchte, mir einzureden, das Ganze sei nur ein
Routinebesuch bei einem Zeugen, der mir möglicherweise wichtige Informationen liefern
konnte.
    Weiter nichts.
    Der Mann, der auf mein Klopfen öffnete,
war groß und muskulös, mit tiefen Falten im nussbraunen Gesicht und grauem
Haar, das auf die Schultern seines karierten Holzfällerhemds hing. Zwischen
seinen Lippen klemmte eine Zigarette. Es prickelte in meinem Nacken, als ich
eine maskuline Version von Mary McCones scharf geschnittenen Zügen vor mir sah.
Und meinen eigenen. Seine schmalen Augen betrachteten mich durch den
Zigarettenrauch, verrieten gar nichts, nicht mal Neugier. Er legte den Kopf
leicht schräg und wartete.
    »Mr. Elwood Farmer?«
    Leichtes Nicken.
    »Ich bin Sharon McCone. Meine
Urgroßmutter war die Schwester Ihrer Mutter.«
    Erneutes Nicken, als ob ständig fremde
Großstädterinnen vor seiner Tür stünden und behaupteten, mit ihm verwandt zu
sein.
    »Könnte ich mit Ihnen reden, Sie ein
paar Dinge fragen?«
    Er trat heraus, schloss die Tür hinter
sich. Nahm die Zigarette aus dem Mund, ließ sie auf den Boden fallen, trat sie
aus. Und wartete.
    Ich sagte: »Meine Urgroßmutter, Mary
McCone, war die Tochter von Häuptling Tendoy und seiner dritten Frau. Sie traf
meinen Urgroßvater, nachdem sie von einem Indianerbeamten entführt worden war,
und ging mit ihm nach Kalifornien. Ich versuche, meine Wurzeln
zurückzuverfolgen.«
    Lange Schweigepause. Dann fragte er,
mit einer Stimme, deren heiserer Klang wohl weniger auf sein Alter als auf zu
viel Tabak und zu wenig Redepraxis zurückzuführen war: »Warum?«
    »Weil... ich wissen muss, wer ich bin.«
    Stirnrunzeln. Elwood Farmer sog
nachdenklich die Unterlippe ein.
    »Sie wissen nicht, wer Sie sind?«,
fragte er.
    »Ja. Nein. Ich meine —«
    Er sah mich streng an. »Junge Frau,
kommen Sie morgen wieder, wenn Sie Ihre Gedanken gesammelt haben.« Damit ging
er ins Haus und schloss die Tür.
     
     
     
     

2 0 Uhr21
     
     
    »Meine Gedanken sammeln«, murmelte ich,
während ich eine bequemere Position auf dem harten Bett suchte. »Was zum Teufel
soll das heißen?«
    Mein Motel war am Nordende des Orts,
zwölf Einheiten mit Linoleumboden und einem Sortiment der hässlichsten und
unbequemsten Möbelstücke diesseits von Grand Rapids. Alles, selbst die
Fernbedienung für den Fernseher, war festgeschraubt. Ich drückte den Ein-Knopf
und schaltete die Kanäle durch. Schnee, Schnee, noch mehr Schnee und eine
Sitcom mit Konservengelächter. Aus! Von Elwood Farmers Haus war ich zum
Yesterday’s Café gefahren, hatte dort ein Schälchen Chili gegessen und gefragt,
wo ich am besten übernachten könne. Diesmal war der Kellner ein amerikanischer
Ureinwohner gewesen; er hatte einen Blick auf meine Kleidung und meine Frisur
geworfen und mich an das vom Automobilclub empfohlene Hotel verwiesen. Aber das
war voll gewesen, also war ich jetzt hier. Ich verschränkte die Arme und
starrte düster auf eine kitschige Gebirgslandschaft an der Wand gegenüber.
    Ich hatte ja nicht damit gerechnet,
dass Elwood Farmer mich mit offenen Armen aufnehmen würde, schließlich war ich
nur eine entfernte Verwandte — wenn überhaupt. Aber ich hatte auch nicht damit
gerechnet, mit Schweigen und dann schließlich einer ziemlich unverhüllten
Kritik an meiner Denktätigkeit empfangen zu werden. Vielleicht würde sich ja
herausstellen, dass meine Blutsverwandten genauso merkwürdig waren wie meine
Adoptivfamilie. Vielleicht würde ich es ja bereuen, sie aufgespürt zu haben.
    Eins würde ich jedenfalls bestimmt
bereuen: mehr Zeit in diesem Zimmer verbracht zu haben als unbedingt nötig. Ich
stand auf, kämmte mich, schnappte mir Tasche und Jacke. Vorhin hatte ich gleich
gegenüber eine Bar gesehen, die Warbonnet Lounge;

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