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Gefährliche Trauer

Gefährliche Trauer

Titel: Gefährliche Trauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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mußte ja die halbe Nacht wie 'ne streunende Katze in der Gegend rumlungern. Die Leute haben einfach keine Moral mehr!«
    »Also wen haben Sie in der Queen Anne Street gesehen?« Evan konnte seine Aufregung kaum verbergen. Wer immer Octavia Halsett auf dem Gewissen hatte, war weder an den Kutschern und Lakaien am anderen Ende der Straße vorbeigekommen noch über die Stallungen gekraxelt - er mußte geradewegs an Chinesen-Paddy vorbeimarschiert sein, sofern der die Wahrheit sagte. Eine Welle der Erregung durchlief Evans Körper.
    »Niemand, bloß den Quacksalber und die bescheuerte Magd«, sagte Paddy gereizt. »Mir sind fast die Augen rausgefallen vom vielen Glotzen, weil ich die ganze Nacht drauf gewartet hab, dasses endlos losgehn kann - alles umsonst! Das Haus, in dem der Quacksalber verschwunden is, war so hell erleuchtet wie 'n Weihnachtsbaum, und die Tür - auf und zu, auf und zu - da hab ich mich nich getraut. Und dann die dämliche Schlampe mit ihrem Kerl! Nee, an mir is niemand vorbeigekommen, das schwör ich sogar bei meinem Leben. Soll Mr. Monk ruhig mit mir machen, was er will - ich geh nich davon ab! Egal, wer die arme Frau abgemurkst hat - der war schon drin im Haus, da können Se Gift drauf nehmen. Ich wünsch Ihnen viel Glück, wenn Se den finden wollen, ich kann Ihnen nämlich nich helfen. Und jetzt kaufen Se 'nen gottverdammten Fisch zum doppelten Preis und verschwinden Se von hier. Sie halten mich von der Arbeit ab!«
    Evan nahm ein glitschiges Exemplar in Empfang und gab ihm über drei Shilling. Chinesen-Paddy war ein Kontaktmann, den man besser bei Laune hielt.
    »Schon drin im Haus«, dröhnte es in seinem Kopf. Natürlich mußte er sich das noch von der lustwandelnden Magd bestätigen lassen, aber wenn sie tatsächlich dazu zu überreden war, den Mund aufzumachen - notfalls mit der Androhung, ihrer Herrin von ihren nächtlichen Eskapaden zu berichten -, hatte Chinesen-Paddy vollkommen recht: Wer immer Octavia Haslett umgebracht hatte, gehörte zum Haushalt. Es handelte sich nicht um einen Fremden, einen Einbrecher, der auf frischer Tat ertappt worden war, sondern um vorsätzlichen, geschickt getarnten Mord.
    Evan drehte sich zur Seite, um sich zwischen einem hohen Fischverkäuferkarren und einem Obsthändlerwägelchen durchzuquetschen, und landete auf offener Straße.
    Er konnte sich Monks Gesicht lebhaft vorstellen, wenn er von der Neuigkeit erfuhr - und Runcorns erst! Die Situation hatte sich grundlegend geändert. Das Ganze entpuppte sich langsam als äußerst gefährliche und überaus heikle Angelegenheit.

2
    Hester Latterly richtete sich von der Feuerstelle auf, die sie soeben gesäubert und frisch bestückt hatte, und ließ den Blick über den langen, engen Krankenhaussaal schweifen. Schmale Pritschen reihten sich im Abstand von kaum mehr als einem Meter an beiden Seiten des düsteren Raumes aneinander, die hohe Decke war rußgeschwärzt, Fenster gab es nur wenige. Unter den grauen Decken lagen Erwachsene und Kinder in jedem erdenklichen Stadium von Krankheit und Elend.
    Zumindest war genügend Kohle vorhanden, daß sie den Raum ausreichend warm halten konnte, auch wenn sich der Staub und die feine Asche überall festzusetzen schienen. Den Frauen in den Betten direkt beim Feuer war zu heiß; ständig beschwerten sie sich, die kleinen Körnchen würden unter ihre Verbände geraten, und Hester mußte alle fünf Minuten den Tisch und die Holzstühle in der Mitte des Saals abstauben, wo sich ein paar kräftigere Patienten gelegentlich hinsetzten. Die Station fiel in Dr. Pomeroys Zuständigkeitsbereich, einem Chirurgen, folglich handelte es sich bei sämtlichen Personen um Leute, die entweder auf eine Operation warteten oder sich davon erholten - was in über der Hälfte der Fälle bedeutete, sie erholten sich nicht, sondern siechten in irgendeinem Stadium von Wundfieber oder Krankenhausinfektion dahin.
    Am anderen Ende des Saals begann ein kleiner Junge von neuem zu weinen. Er war erst fünf und hatte einen tuberkulösen Abszeß im Schultergelenk. Drei Monate wartete er jetzt schon hier auf die Operation, doch jedesmal, wenn er mit zitternden Knien, zusammengebissenen Zähnen und angstverzerrtem Gesichtchen zum Operationssaal gebracht wurde, mußte er über zwei Stunden im Vorraum sitzen, nur um zu hören, daß ein anderer Fall vorgezogen worden sei und er in sein Bett zurück müsse.
    Zu Hesters größtem Zorn hatte Dr. Pomeroy weder ihr noch dem Kind verraten, warum das immer wieder

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