Gefährliche Trauer
sie in einem tiefen, verschwiegenen Winkel ihrer Seele tröstete. Die unglaubliche Inkompetenz, mit der der Feldzug geführt worden war, hatte sie in bodenlose Wut versetzt. Die Verhältnisse im Militärkrankenhaus von Skutari waren so furchtbar gewesen, daß sie geglaubt hatte, wenn sie all das überleben und nicht den Verstand verlieren würde, müßte zu Hause in England alles pure Erleichterung und Bestärkung sein. Jedenfalls gab es dort keine Wagenladungen voll Verwundeter, keine verheerenden Seuchen, keine Männer mit Frostbeulen, denen Glieder amputiert werden mußten, keine Dutzende Erfrorene wie auf den Hügeln vor Sewastopol. Ganz normalen Schmutz bloß, Läuse und Ungeziefer, aber nichts verglichen mit den Legionen von Ratten, die wie verfaultes Obst von den Wänden fielen; das geräuschvolle »Plop«, wenn die fetten Körper auf Betten oder Fußboden plumpsten, verfolgte sie immer noch bis in ihre Träume. Und sie würde nur die üblichen menschlichen Ausscheidungen beseitigen müssen, keinen unter Blut und Exkrementen liegenden Lazarettfußboden scheuern, den Hunderte bewegungsunfähige Männer und Tausende von Ratten besudelt hatten. Dachte sie.
Ein Gutes hatte dieser Alptraum allerdings: Er hatte ihre Stärke geweckt, genau wie bei den meisten anderen Frauen.
Jetzt war es die ewige Überheblichkeit, die obrigkeitshörige, in Bürokratie erstickte Selbstgefälligkeit, das völlige Sperren vor jeglicher Veränderung, was sie lahmte. In den Augen der Behörden galt Initiative als arrogant, ja gefährlich, und speziell bei Frauen als dermaßen fehl am Platze, daß man fast glauben konnte, es wäre wider die Natur.
Die Queen war vielleicht bereit, Florence Nightingale einen freundlichen Empfang zu bereiten, aber das medizinische Establishment hatte keineswegs die Absicht, junge Frauen mit Reformallüren willkommen zu heißen. Das hatte Hester anhand zahlreicher ausgesprochen ärgerlicher, gescheiterter Zusammenstöße bereits am eigenen Leib erfahren.
Noch schlimmer wurde das Ganze durch die riesigen Fortschritte auf dem Gebiet der Chirurgie. Es war auf den Monat zehn Jahre her, daß man in Amerika zum erstenmal Äther als Narkosemittel bei einer Operation erfolgreich eingesetzt hatte. Eine phantastische Entdeckung! Dadurch wurde plötzlich vieles durchführbar, das vorher unmöglich gewesen war. Ein brillanter Chirurg konnte ein Körperglied natürlich auch so amputieren, Fleisch, Arterien, Muskeln und Knochen durchtrennen, den Stumpf verätzen und so weit wie möglich zunähen - und das in vierzig oder fünfzig Sekunden. Robert Liston, einer der schnellsten, war dafür bekannt, daß er in neunundzwanzig Sekunden einen Hüftknochen samt Bein, zwei Finger seines Assistenten sowie den Rockschoß eines Zuschauers durchsägen und amputieren konnte.
Aber der Schock für den Patienten war bei einer derartigen Prozedur furchtbar, und Operationen an inneren Organen standen vollkommen außer Frage, denn niemand konnte so gut festgebunden werden, auch nicht mit sämtlichen Riemen und Tauen der Welt, daß das Messer bei einer Zuckung nicht abzurutschen drohte. Der Beruf des Chirurgen war nicht mit Begriffen wie Status oder Würde belegt. Die meisten Chirurgen wurden mit Barbieren verglichen, bei denen es eher auf starke Hände und flinke Bewegungen ankam als auf großes Wissen.
Dank der Anästhesie waren nun auch kompliziertere Operationen machbar, zum Beispiel die Entfernung eines infizierten Organteils, wie bei diesem Jungen. Sein Gesicht war gerötet, der kleine Körper nach wie vor gekrümmt, aber er hatte sich beruhigt und schien fast zu schlafen.
Sie hielt ihn immer noch mit sanften Schaukelbewegungen im Arm, als Dr. Pomeroy hereinkam. Er trug die übliche Operationskleidung: eine dunkle, abgetragene, blutbefleckte Hose, ein Hemd mit zerrissenem Kragen, die obligatorische Weste und darüber eine alte, ebenfalls stark besudelte Jacke. Es war sinnlos, sich gute Kleidungsstücke zu verderben; jeder andere Chirurg hätte das gleiche getragen.
»Guten Morgen, Dr. Pomeroy«, sagte Hester rasch. Sie lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich, weil sie ihn drängen wollte, den Jungen am nächsten oder übernächsten, am besten noch an diesem Tag zu operieren. Sie wußte, daß seine Genesungschancen ohnehin bescheiden waren - vierzig Prozent der Chirurgiepatienten gingen an postoperativem Wundfieber zugrunde -, aber sein Zustand wurde bestimmt nicht besser, die Schmerzen dagegen schlimmer und seine körperliche
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