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Gefährliche Trauer

Gefährliche Trauer

Titel: Gefährliche Trauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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geschah. Aber Dr. Pomeroy sah Krankenschwestern im selben Licht wie die meisten Ärzte. Sie waren ausschließlich für die niederen Arbeiten gut: Waschen, Fegen, Schrubben, Abnehmen gebrauchter Verbände, Zusammenrollen, Wegräumen und Weiterreichen frischer. Wer länger im Dienst war, durfte sich auch um das Aufrechterhalten der Disziplin unter den Patienten kümmern - vor allem in moralischer Hinsicht -, damit sie nicht aus der Reihe tanzten.
    Hester strich Rock und Schürze glatt und eilte dem Kind zu Hilfe. Gegen seine Schmerzen konnte sie nichts tun - er hatte bereits alles bekommen, was er haben durfte, dafür hatte sie gesorgt -, aber sie konnte ihm wenigstens ein Paar tröstende Arme und ein freundliches Wort anbieten.
    Er lag zusammengerollt auf der linken Seite, die rechte Schulter nach oben gereckt, und wimmerte verhalten ins Kissen. Es war ein trauriger, resignierter Laut, als würde er nichts mehr vom Leben erwarten und könnte sein Elend nur nicht länger für sich behalten.
    Sie setzte sich auf die Bettkante und nahm ihn sehr vorsichtig in den Arm. Er war mager, leicht wie eine Feder. Sie legte seinen Kopf an ihre Brust und strich ihm sanft übers Haar. Es war nicht das, wofür man sie eingestellt hatte; sie war eine geübte Schwester mit Schlachtfelderfahrung bezüglich furchtbarer Wunden, Notoperationen und der Pflege von Männern, die unter Cholera, Typhus und Wundbrand zu leiden hatten. Nach dem Krieg war sie wie unzählige andere Frauen, die sich an der Krim um die Verwundeten gekümmert hatten, in der Hoffnung nach England zurückgekehrt, bei der Verbesserung der mangelhaften Zustände in den traditionsgebundenen englischen Krankenhäusern mithelfen zu können. Doch auch nur eine Stellung zu finden, geschweige denn irgendwelchen Einfluß auszuüben, hatte sich als weitaus schwieriger entpuppt, als sie gedacht hatte.
    Florence Nightingale war selbstverständlich die Heldin der Nation. Die Presse überschüttete sie mit Lob, die Öffentlichkeit betete sie an. Vermutlich war sie der einzige Mensch, der überhaupt aus diesem ganzen traurigen Unterfangen mit Ruhm bekränzt hervorging. Man erzählte sich allerlei Geschichten von dem überstürzten, unsinnigen und fehlgeplanten Angriff der Light Brigade, der direkt in die Mündungen der russischen Gewehre geführt hatte, und es gab kaum eine Familie im Land, die nicht einen Sohn oder Freund im anschließenden Gemetzel verloren hatte. Hester hatte das Blutbad von den Hügeln aus mit eigenen Augen hilflos verfolgt. Noch heute konnte sie Lord Raglan vor sich sehen, wie er mit kerzengeradem Rücken auf seinem Pferd saß, als befände er sich in einem englischen Park, und tatsächlich, hinterher hatte er erklärt, er wäre mit seinen Gedanken daheim bei seiner Frau gewesen. Den aktuellen Ereignissen konnten sie auf keinen Fall gegolten haben, sonst hätte er kaum diesen selbstmörderischen Befehl erteilt, wie immer der genaue Wortlaut auch gewesen sein mochte - und darüber wurde anschließend heftigst debattiert. Fest stand lediglich, daß er einen Befehl erteilt hatte, den Unteroffizier Nolan an Lord Cardigan und Lord Lucan weitergeben sollte. Nolan wurde getötet, vom Splitter einer russischen Granate zerfetzt, und fiel schreiend und mit schwingendem Schwert vor Lord Cardigan zu Boden. Vielleicht hatte er Cardigan warnen wollen, daß er bemannte Geschützreihen statt einer verlassenen Stellung angriff, wie es im Befehl hieß - aber das würde sich nie mehr aufklären.
    Hunderte von Menschen kamen ums Leben oder wurden zu Krüppeln, die Elite der Kavallerie endete in Balaklawa als ein Meer von Leichenteilen. Was Mut und extreme Opferbereitschaft anbelangte, nahm die Schlacht in der Geschichte der Menschheit eine einsame Spitzenstellung ein, aus militärischer Sicht war sie absolut sinnlos gewesen.
    Und wie stand es um Glanz und Gloria der »Roten Gefechtslinie« an der Alma, wo sich die »Harte Brigade« auf die Zehen trat, ein roter Rock neben dem anderen, zusammengetan zu einem schwankenden, selbst von dort, wo die Frauen warteten, deutlich sichtbaren roten Band, das den Feind zurückhielt? Kaum war ein Mann gefallen, wurde er durch den nächsten ersetzt, so daß die Barriere nie einbrach. An solchen Heroismus würde man sich erinnern, solange es Geschichten über Krieg und Kühnheit gab, aber wer außer den Hinterbliebenen dachte heute noch an die Verstümmelten und die Toten?
    Hester drückte das Kind fester an sich. Es hatte aufgehört zu weinen, was

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