Gefährliche Trauer
vollem Mund zu bedenken. »Der pumpt die andern die ganze Zeit an, das sagt jedenfalls Percival.«
»Percival ist auch nicht allwissend«, wies Annie ihn zurecht.
»Nicht, daß das heißen soll, Mrs. Moidore war nicht dazu imstande gewesen. Trotzdem sieht's mir eher nach Mrs. Kellard aus. Schwestern können sich ganz schrecklich hassen.«
»Wieso?« fragte Maggie. »Wieso hätte Mrs. Kellard die arme Miss Octavia hassen sollen?«
»Na ja, Percival meint, Mrs. Kellard fand Miss Octavia ziemlich verdorben«, erklärte Annie. »Aber denk jetzt bloß nicht, daß mir Percivals Meinung was bedeutet. Der Kerl hat wirklich 'n böses Mundwerk.«
In dem Moment kam Mrs. Boden herein.
»Schluß mit dem Getratsche!« rief sie scharf. »Und sprich nicht mit vollem Mund, Annie Latimer. Tu lieber deine Arbeit. Sal - du hast die Karotten noch nicht geschabt, und der Kohl fürs Abendessen ist auch nicht fertig! Ihr habt keine Zeit, euch bei 'ner Tasse Tee den Mund fusselig zu reden.«
Die letzte Mutmaßung - Annies - erschien als einzige erwähnenswert, als Monk auftauchte, um das gesamte Personal inklusive der neuen Krankenschwester noch einmal zu befragen, obwohl man ihn darauf hinwies, daß diese zur Tatzeit nicht anwesend gewesen war.
»Vergessen Sie den Küchenklatsch. Was ist Ihre Meinung?« fragte er sie leise, damit ihn niemand hören konnte, der rein zufällig an der Tür zum Wohnzimmer der Haushälterin vorbeikam. Sie runzelte nachdenklich die Stirn und suchte nach den rechten Worten, um das eigenartig beklommene Gefühl zu erklären, das sie in der Bibliothek befallen hatte.
»Hester?«
»Ich weiß nicht genau. Mr. Kellard hatte Angst, soviel steht fest, aber ob das nun auf sein schlechtes Gewissen zurückzuführen ist, weil er sie umgebracht hat oder weil er ein paarmal versuchte, bei ihr zu landen, kann ich nicht sagen. Vielleicht hat es ihm auch nur einen großen Schrecken eingejagt zu sehen, welches Vergnügen seiner Frau der Gedanke bereitete, daß er eventuell ernsthaft beschuldigt, womöglich sogar angeklagt wird. Sie hat…« Hester zögerte wieder, da ihr das Wort zu melodramatisch erschien, fand jedoch kein besseres.
»Sie hat ihn regelrecht gequält. Ich habe natürlich keine Ahnung, wie sie reagieren würde, wenn man ihn tatsächlich anklagt. Vielleicht hat sie es nur wegen irgendwelcher Streitigkeiten getan und würde ihn gegen Fremde wie eine Löwin verteidigen.«
»Glauben Sie, sie hält ihn für schuldig?« Monk lehnte am Kaminsims, das Gesicht in nachdenkliche Falten gelegt.
Das hatte Hester sich seit dem Zwischenfall bereits selbst mehrfach gefragt. Diesmal brauchte sie nicht lang für die Antwort.
»Ich bin sicher, daß sie sich nicht vor ihm fürchtet, aber zwischen den beiden herrscht eine fühlbare, undefinierbare Spannung, von der etwas Bitteres ausgeht - außerdem ist er meiner Meinung nach derjenige, der Angst hat. Ich weiß allerdings nicht, ob das mit Octavias Tod zusammenhängt oder ob es daran liegt, daß sie die Macht hat, ihn zu verletzen.«
Sie atmete tief ein. »Es muß ausgesprochen schwierig sein, im Haus des Schwiegervaters zu leben, sich seiner Gerichtsbarkeit ausgeliefert zu sehen und ständig gezwungen zu sein, ihm alles recht zu machen, weil sonst unangenehme Konsequenzen auf einen zukommen. Und soweit ich das beurteilen kann, schwingt Sir Basil das Zepter mit eiserner Hand.« Sie saß seitlich auf der Sessellehne, eine Haltung, die Mrs. Willis die Zornesröte ins Gesicht getrieben hätte; zum einen war so etwas ausgesprochen undamenhaft, zum andern ruinierte es ihr kostbares Mobiliar.
»Von Mr. Thirsk oder Mrs. Sandeman habe ich bis jetzt noch nicht viel gesehen. Sie führt ein recht flottes Leben, und ich mag ihr vielleicht Unrecht tun, aber ich glaube, sie trinkt. Ich habe es im Krieg oft genug erlebt, um die Anzeichen zu erkennen, auch bei Leuten, bei denen man es für unvorstellbar hält. Gestern früh zum Beispiel hatte sie fürchterliche Kopfschmerzen, die der Art und Weise nach zu urteilen, wie sie sich davon erholte, auf kein gewöhnliches Kranksein zurückzuführen waren. Aber ich urteile vielleicht vorschnell. Ich begegnete ihr nur kurz auf der Galerie, als ich zu Lady Moidore ging.«
Monk lächelte schwach. »Und was halten Sie von Lady Moidore?«
Jeder Anflug von Humor verschwand aus Hester's Zügen.
»Sie hat große Angst. Sie weiß oder vermutet etwas, das so entsetzlich ist, daß sie ihm nicht ins Gesicht zu sehen wagt, kann es andererseits aber auch
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