Gefährliche Trauer
Vielleicht lag es daran, daß sich bisher niemand für ihres zuständig gefühlt hatte, aber sie stand ganz auf Cyprians Seite - auch ohne die näheren Umstände zu kennen. Sie prallte geräuschvoll gegen den Vorhang, ließ die Ringe an der Stange ordentlich klappern, stieß ein überraschtes, verärgertes Japsen aus und segelte mit entschuldigendem Lächeln und einer Handvoll rosafarbener Margeriten an ihnen vorbei, als sie sich nach der Quelle des Lärms umdrehten.
Hester gewöhnte sich nur mit Schwierigkeiten in der Queen Anne Street ein. Was die körperlichen Bedürfnisse anbelangte, war das Leben dort extrem komfortabel. Abgesehen von den Bedienstetenquartieren im dritten und vierten Stock war es überall angenehm warm, und das Essen entpuppte sich als das beste, was sie je zu sich genommen hatte - außerdem waren die Portionen gigantisch. Es gab Fleisch, Fluß und Meeresfisch, Wild, Geflügel, Austern, Hummer, Hasenpfeffer, Pasteten, Gebäck, Gemüse, Früchte, Kuchen, Torten und Obstböden, Pudding und diverse andere Süßspeisen. Die Hausangestellten aßen ebensooft das, was aus dem Speisezimmer zurückkam, wie Gerichte, die speziell für sie zubereitet wurden.
Sie lernte die hierarchische Struktur der Gesindestube kennen, insbesondere wer welche Domäne regierte und wer wem unterstand - was überaus wichtig war. Niemand mischte sich in den Aufgabenbereich eines anderen ein, und jeder wachte über sein eigenes Territorium mit eifersüchtiger Pingeligkeit. Völlig undenkbar, daß ein langgedientes Hausmädchen aufgefordert wurde, die Arbeit einer Anfängerin zu verrichten, oder - schlimmer noch - daß ein Lakai sich in der Küche Freiheiten herausnahm und die Köchin vor den Kopf stieß.
Für Hester war allerdings weitaus interessanter, wo die Sympathien lagen, wo Rivalitäten herrschten, wer sich von wem gekränkt fühlte und weshalb.
Alle hatten tiefe Ehrfurcht vor Mrs. Willis, und Mr. Phillips wurde, was die praktischen Gesichtspunkte anbelangte, eher als Herr des Hauses betrachtet denn Sir Basil, den der Großteil der Belegschaft nie zu Gesicht bekam. Es wurden eine Menge Witze und respektlose Bemerkungen über sein soldatisches Gehabe gemacht. Man verglich ihn des öfteren mit einem Hauptfeldwebel, jedoch nur, wenn er nicht in der Nähe war.
Mrs. Boden, die Köchin, führte das Regiment in der Küche mit eiserner Hand, zeichnete sich aber eher durch Erfahrung, ihr strahlendes Lächeln und hitziges Temperament aus als durch furchteinflößendes Auftreten wie Mrs. Willis oder der Butler. Sie war ganz vernarrt in Romolas und Cyprians Kinder, die blonde, achtjährige Julia und ihren zwei Jahre älteren Bruder Arthur. Bei jeder Gelegenheit verwöhnte sie die beiden mit kleinen Leckerbissen aus der Küche, was häufig vorkam, da sie die Fertigstellung des Tabletts für das Kinderzimmer überwachte.
Das Stubenmädchen Dinah trug die Nase etwas höher, was mehr auf ihre Position als auf ihr Wesen zurückzuführen war. Stubenmädchen wurden nach dem äußeren Erscheinungsbild ausgesucht und waren dazu auserkoren, mit hoch erhobenem Haupt und wehenden Röcken durch die Empfangsräume zu rauschen, am Nachmittag die Haustür zu öffnen und die Karten der Gäste auf einem Silbertablett zur Herrschaft zu befördern. Hester fand Dinah im Grunde recht umgänglich. Sie sprach gern von ihrer Familie, erzählte immer wieder, wie gut ihre Eltern zu ihr gewesen waren, daß sie ihr jede Möglichkeit gegeben hatten, etwas aus ihrem Leben zu machen.
Sal, die Küchenmagd, meinte zwar, Dinah hätte noch nie einen Brief von zu Hause bekommen, aber niemand achtete auf sie. Dinah nahm die gesamte Freizeit, die ihr zustand, und fuhr einmal im Jahr in ihr Heimatdorf in Kent.
Die langjährige Wäschemagd Lizzie hingegen besaß einen übergeordneten Rang. Sie führte den Waschraum mit unbeugsamer Disziplin. Rose und die Frau, die sporadisch vorbeikam, um ihr beim Bügeln zu helfen, wurden niemals beim Ungehorsam ertappt, wie es um ihre Gefühle auch bestellt war.
Das alles war zwar eine unterhaltsame Studie zur Vielfalt menschlicher Charaktere, schien jedoch für die Suche nach Octavia Hasletts Mörder kaum von Bedeutung.
Natürlich wurde dieses Thema vom Personal nicht ausgeklammert. Man konnte keinen gewaltsam herbeigeführten Todesfall im Haus haben und von den Leuten erwarten, daß sie nicht darüber redeten, insbesondere wenn alle verdächtigt wurden - und einer von ihnen schuldig sein mußte.
Mrs. Boden allerdings
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