Gefaehrliche Versuchung
festhalten, wenn er nie im Unrecht gewesen war? Wie sollte sie ihn verantwortlich machen? Er hatte keine Chance gehabt – nicht wenn ihr eigener Vater sie verurteilt hatte.
Einmal hatte er gesagt, dass er sie lieben würde. Aber damals hatte er sie erst seit sechs Wochen gekannt. Was würde passieren, wenn er gezwungen wäre, jahrelang mit ihr zusammenzuleben? Würde sie den Mut haben, Tag für Tag darauf zu warten, dass er dem Weg ihres Vaters folgen und sie ebenfalls verachten würde? Oder sollte sie ihn, so schnell es ging, fortschicken und ihnen beiden das alles ersparen?
Oh verdammt, sie weinte schon wieder. Sie hasste es zu weinen. Es war so sinnlos. Es lohnte sich nur, um Herren dazu zu drängen, zu Rundell and Bridge, dem feinsten Juwelier Londons, zu fahren. Allerdings war Harry nicht die Art von Gentleman, der zum Juwelier ging. Er hatte ihr etwas anderes gegeben: starke Arme und stille Unterstützung. Etwas, das sie nun als Trost erkannte.
Die Erinnerung an diese Momente trieb sie schließlich aus dem Bett. Als sie aufstand, atmete sie vor Schmerz scharf durch. Doch das hielt sie nicht auf. Sie musste die Erinnerungen an die vergangene Nacht bei einem Spaziergang verarbeiten.
Er war so nett, so verständnisvoll gewesen. Er hatte sie in den Armen gehalten, als wäre er ihr Schutz gegen einen wütenden Sturm. Kate hatte damals natürlich beobachtet, wie Harrys Familie sich umarmt hatte. Anscheinend hatten sie nie aneinander vorbeigehen können, ohne sich zu tätscheln, zu berühren, zu umarmen oder zu küssen – vor allem wenn jemand sich wehgetan hatte, wenn er traurig oder ängstlich war. Sie hatte die Freigiebigkeit der Familie wie ein Vagabund beobachtet, der nach einem warmen Platz zum Schlafen suchte.
Aber sie wusste nicht, wie sie diesen Trost annehmen konnte. Sie wusste nicht, warum Harry sie umarmt hatte. Es bereitete ihr größere Schwierigkeiten, dieses liebevolle Geschenk anzunehmen, als die schlimmste Tracht Prügel von Murther zu überstehen.
Verdammt. Neue Tränen. Sie trat an die Frisierkommode, nahm ein Taschentuch und tupfte sich damit die Augen trocken. Es war an der Zeit, die Gedanken in eine neue Richtung zu lenken und an etwas anderes zu denken. An etwas, das sie verstehen und beeinflussen konnte. Immerhin würde Harry irgendwann gehen und sie nicht mehr umarmen. Sie musste einen Weg finden, um allein weiterzumachen, allein weiterzuleben. Sie musste helfen, die Löwen ihrer gerechten Strafe zuzuführen, damit Harry endlich zu seinen Reisen aufbrechen konnte. Denn wenn er noch länger warten musste, wenn er noch länger blieb, würde sie lernen, sich auf ihn zu verlassen und ihm zu vertrauen. Und wie sie nur zu gut wusste, war das nicht wünschenswert.
Kapitel 14
Sie stand am Fenster und dachte über ihre Bekannten in der feinen Gesellschaft und deren mögliche Verbindung zu den Löwen nach. Plötzlich hörte sie, wie die Tür zur Suite hinter ihr aufging. Bivens unverwechselbare Schritte hallten auf dem Holzfußboden wider. Die Zofe machte sich nicht einmal die Mühe, wegen ihrer kranken Herrin leise zu sein. Kate lächelte in sich hinein. Bivens hatte offenbar eine Mission.
Die Zofe kam herein, als wäre nichts passiert, und richtete die Abendgarderobe her. »Wollen Sie die ganze Woche hier herumschleichen, oder können die Mädchen hereinkommen und sauber machen?«
Bivens war das einzige Mitglied der Dienerschaft, das auch unter Murther gearbeitet hatte. Also wusste sie genau, wie Kate mit Verletzungen umging.
Den Blick auf den verregneten Garten gerichtet, lächelte Kate. »Herumschleichen, denke ich.«
Die Zofe schnaubte. »Seien Sie nicht albern. Herumzuliegen und interessant auszusehen, hat bei Ihnen noch nie funktioniert. Sie wissen, dass Sie dann immer so empfindlich werden.« Bivens musste bemerkt haben, dass Kate geweint hatte.
»Bivens«, warnte Kate sie und war froh, dass ihre Zofe in ihre Festung eingedrungen war, »Sie wissen sehr genau, dass ich nie empfindlich bin. Das ist viel zu gewöhnlich.«
»Im Übrigen jagen Sie Lady Bea Angst ein, und Thrasher steht ununterbrochen am Treppenabsatz, falls Sie wieder ausrutschen sollten.«
Kate drehte sich um. »Ich dachte, er wäre draußen und würde den Axtmann jagen.«
Ein Schulterzucken war die Antwort. »Es wird gerade Wasser für ein Bad erhitzt. Hier sind Ihre Kleider. Und anschließend werden Sie zu Abend essen. Sonst werden Miss Grace, Lady Bea und ich Ihnen Löffel für Löffel eintrichtern – so wie
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