Gefährliche Wahrheit - Rice, L: Gefährliche Wahrheit
die Szene vor ihr.
Der Schneefall war immer noch ziemlich leicht. Nur einige wenige kleine, eisige Flocken schwebten herab, so leicht, dass der Wind sie manchmal gleich wieder nach oben wirbelte. Gelegentlich trieben die Flocken auch in dichteren Schwaden dahin. Drake hatte keine Ahnung, wie die Wettervorhersage lautete – wieder nur eines von vielen Anzeichen dafür, wie sehr sein Leben aus dem Gleichgewicht geraten war. Er wusste immer , wie die Wetteraussichten waren. Es war ein wesentlicher Bestandteil seines Wesens zu wissen, wie das Wetter ausfallen würde, was mit dem Dow Jones los war, wo sich seine Männer gerade aufhielten und dass er immer einer der Ersten war, der über Verlagerungen der geopolitischen Lage Bescheid wusste. Nicht zu fassen, dass er von diesem Schneefall überrascht worden war. So oft hatte sein Leben schon von dem Wissen abgehangen, ob es regnen oder schneien würde.
Grace’ Augen folgten den leichten Verwehungen. „Wunderschön“, murmelte sie.
„Hmm.“ Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar, die Nase gleich an der weichen Haut hinter ihrem Ohr. Warum nach draußen sehen, wenn er doch sie in dem dunklen Glas beobachten konnte? Um Himmels willen, das war doch bloß Schnee. Er wäre einmal beinahe in einem Schneesturm erfroren, als er noch auf der Straße lebte. Schnee war kalt und nass.
Es war besser, warm und trocken zu sein.
Sie rüttelte an seinem Arm. „Sieh doch nur, Drake! Sieh hinaus!“ Widerwillig löste er seine Geisteraugen von ihren Geisteraugen, um sich auf die Szene vor ihnen zu konzentrieren.
Sie streckte die Hände aus, als ob sie die ganze Szenerie umfassen wollte. „Das will ich malen, genau so. Alles silbern und mitternachtsschwarz, und die Gebäude glitzern geheimnisvoll in der Dunkelheit. Sieh nach unten, Drake! Siehst du, wie der Nebel aufsteigt? Dadurch sehen die Gebäude wie Inseln am Himmel aus, findest du nicht? Ich werde es mit einer monochromen Palette malen, mit dem Kontrast zwischen dem wallenden Nebel und dem fallenden Schnee.“
Drake erstarrte.
Eine Sekunde lang geschah etwas Erschreckendes. Diese ganzen Stunden, die er im Laufe des vergangenen Jahres damit verbracht hatte, einfach nur ihre Bilder anzustarren, hatten eine Veränderung seiner Wahrnehmung bewirkt. Eine Sekunde lang sah er die Szene durch ihre Augen. Er sah nicht mehr bloß Schnee, den er hasste und bestenfalls als Ärgernis empfand, der sogar lebensbedrohlich sein konnte. Er sah über seinen Hass auf Schnee hinweg auf die Landschaft vor dem Fenster.
Eine magische Landschaft, durch ihre Augen gesehen. Ein prächtiges Fantasieland in silbriger Dunkelheit. Ihre Augen folgten dem Schnee, und er folgte ihrem Blick in der Reflexion des dunklen Glases. Sie prägte sich alles ein, was sie sah, und irgendwann in der Zukunft – vielleicht morgen oder nächsten Monat oder nächstes Jahr – würden ihre klugen Hände ein Meisterwerk schaffen, das er bis in alle Ewigkeit ansehen würde. Nur dass er sich diesmal, wenn er es betrachtete, an den exakten Moment erinnern würde, in dem sie die Inspiration dazu erhalten hatte.
Sie veränderte ihn, durch geheimnisvolle alchimistische Prozesse. Sie öffnete sein Herz für die Schönheit dieser Welt. Es war beängstigend, und er war sich keinesfalls sicher, ob ihm der Gedanke gefiel, aber so war es.
Er sah auf die schwarzen und silbernen Formen hinaus, den nebligen Dunst, den fallenden Schnee, und empfand sie als faszinierend, anstatt sich darüber den Kopf zu zerbrechen, welche Auswirkungen das schlechte Wetter auf seine Geschäfte haben würde.
Die Welt war weitaus geheimnisvoller und schöner, als er je geahnt hatte.
In den vergangenen fünfzehn Jahren hatte er stets in hermetisch abgeschlossenen Wohnungen gelebt, war nur unter den strengsten Sicherheitsmaßnahmen gereist, vom Wagen ins Flugzeug, zum Hotel und wieder zurück. Sein Leben hatte aus Arbeit und Schlaf und sonst nur sehr wenig bestanden. Immer hatte er in einer sterilen, kontrollierten Umgebung gelebt. Seine Welt war auf ein paar Wände zusammengeschrumpft, waren es nun die eines Hotelzimmers, eines Wagens oder eines Flugzeugs. Die Außenwelt war zur Abstraktion verkommen, ein bloßes Konstrukt, das er in seine Kalkulationen einzubeziehen hatte.
Wieder trafen sich ihre Blicke im Glas. Ihre Lippen umspielte ein kleines Lächeln, als ob sie verstanden hätte, was sie mit ihm angestellt hatte.
Sie hatte ihn verändert, verdammt noch mal!
Diese Frau war in sein Innerstes
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