Gefährliche Wahrheit - Rice, L: Gefährliche Wahrheit
Möglicherweise würde sie nie wieder Schnee sehen. Und ganz sicher würde sie New York nie wiedersehen.
Grace legte ihre Hände so auf das Glas, dass sie einen Rahmen bildeten, und bewegte sie über das riesige Fenster, um verschiedene Szenen von New York einzufangen und in ihrem Gedächtnis zu speichern. Sie würde sie in ihrem Unterbewusstsein ablegen, wo sie verarbeitet werden und irgendwann vollkommen unerwartet wieder auftauchen würden.
Sie ging in Drakes wahnsinnig luxuriöses Bad, musste die schwierige Entscheidung zwischen dem Whirlpool und der parfümierten Dusche treffen – und entschied sich am Ende für die Dusche – und zog eines der unverschämt teuren und wunderschönen Outfits an, die er ihr gekauft hatte.
Sie wusste intuitiv, dass er ihr gerne teure Dinge kaufte. Sie legte darauf keinen großen Wert. Sie war ihr ganzes Leben ohne sie ausgekommen und wäre genauso glücklich gewesen, wenn sie ihre Kleidung auch für den Rest ihres Lebens bei Gap und Target hätte einkaufen müssen. Aber die Sachen waren wirklich schön, und da sie Schönheit zu schätzen wusste, wusch sie sich und kleidete sich sorgfältig an.
Heute hatten sich Drakes und ihr Leben endlich zusammengefügt. Es fühlte sich mehr als seltsam an, nicht mehr allein zu sein. Sie würden gemeinsam verschwinden und den Rest ihres Lebens zusammen verbringen. Was für ein herrlicher Gedanke, den sie nie erwartet hätte, jemals zu haben.
Die Uhr auf dem großen Kaminsims schlug. Elf Uhr. Wie in jedem Zimmer, brannte auch hier ein riesiges Feuer. Drake musste wohl entsetzlich unter der Kälte gelitten haben, als er noch ein Kind war, dass er so großen Wert darauf legte, es überall warm zu haben. Vielleicht wäre ein sonniger Ort, der mit keinerlei schlechten Erinnerungen verbunden war, auch für ihn gut.
Als sie den enormen Raum durchquerte, lächelte Grace bei dem Gedanken an das neue Leben, mit dessen Planung sie jetzt gleich im Wohnzimmer beginnen würden.
Drei Zimmer weiter stand eine Frau am Fenster, die Hände an das Glas gelegt. Sie blieb eine ganze Weile in derselben Position dort stehen. Vielleicht genoss sie die Aussicht auf den Schnee. Rutskoi war der Schnee völlig gleichgültig. Er sah nichts als einen deutlichen grün-roten Umriss, ohne Störungen.
Rutskois Abzugsfinger spannte sich an. In diesem Winkel wäre es durchaus möglich, einen tödlichen Schuss abzugeben. Es war Drakes Frau. Darauf würde Rutskoi alles wetten, was er besaß.
Er hatte ihr Herz im Visier.
Eine Bewegung, und sie war tot.
Oh, was für eine Versuchung! Diese Frau zu verlieren, würde Drake in den Wahnsinn treiben. Poetische Gerechtigkeit.
Aber Drake war sein erstes Ziel. Wenn Rutskoi sich von seinen Gefühlen leiten ließ, wäre er für seinen zukünftigen Beruf der Falsche. Erst Drake, dann die Frau. So musste es sein.
Rutskoi beobachtete die Frau durch das Thermalzielfernrohr, während sie auf die verschneite Szenerie unter sich hinabblickte und schließlich verschwand.
Sein Finger entkrampfte sich wieder.
Noch nicht. Aber bald.
Er warf einen Blick auf die Uhr. Elf Uhr. Noch eine Stunde.
Im Arbeitszimmer sah Drake ein paar seiner Pässe durch. Er würde einige Identitäten benötigen, die zu denen passen mussten, die für Grace ausgearbeitet werden würden.
Die Designexperten irrten sich. Weniger war nicht mehr. Mehr war mehr.
Er verfügte über sieben in allen Einzelheiten ausgearbeitete Identitäten aus fünf Nationen, inklusive Kreditkarten, Geburtsurkunden und Daten, die Jahre zurückzuverfolgen waren. Dazu noch einige oberflächliche Identitäten, nur für Notfälle, zum einmaligen Gebrauch.
Er würde nicht die Zeit haben, derartig ausgefeilte Identitäten für Grace anzulegen, darum musste das, was sie jetzt schufen, auch perfekt werden. Zum Glück hatte er den perfekten Mann für diesen Job.
Ein Rollenkoffer, der zwei Millionen Dollar in Hundertdollarnoten enthielt, wartete im Wohnzimmer auf diesen Mann, zusammen mit dem Essen und zwei Flaschen Wein.
In einer halben Stunde war es so weit. Drake gestattete sich ein paar Minuten, um über die überraschende Wendung nachzugrübeln, die sein Leben bald nehmen würde. Er würde den Rest seines Lebens mit einer Frau verbringen. Sie würden sich auf eine weit entfernte Insel im Pazifik zurückziehen, einem Teil der Welt, mit dem er niemals Geschäftsbeziehungen gehabt hatte, und er würde ihnen ein wunderbares Haus bauen oder kaufen, das viel Sonne und Luft hineinlassen würde.
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