Gefährliches Spiel
wissen, wann die nächste Kurve kam, auch wenn es fast unmöglich war, durch die weißen Flocken etwas zu erkennen. Man konnte die Straße vor ihnen nur in flüchtigen Momenten sehen, wenn sich der Vorhang aus Schnee für einen winzigen Moment teilte. Der Lexus schoss mit einer unfassbaren Geschwindigkeit voran, es dauerte nur zwei Sekunden bis sie auf die Wingate Street abbogen. Sie kniff die Lippen zusammen. Sie schlitterten völlig außer Kontrolle über die Straße …
Nein.
Nicht außer Kontrolle. Das Auto fuhr wieder geradeaus und blieb fest auf der Straße, immer noch viel zu schnell, aber in einer geraden Linie.
Den Tod vor Augen atmete Charity schließlich tief ein, zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit. Nick fuhr so schnell, dass es ihr panische Angst machte, aber er schien das Auto völlig im Griff zu haben. Immer wenn sie dachte, dass sie jetzt ganz bestimmt in einen parkenden Kleinbus oder über den Bürgersteig gegen einen Baum rasen würden, brachte Nick irgendwie und ohne zu bremsen das Auto wieder auf die Spur. Er schien einen sechsten Sinn dafür zu haben, zu was das Auto auf diesen vereisten Straßen fähig war, und fuhr genau an dieser Grenze entlang und niemals auch nur einen Millimeter darüber hinaus.
„Was ist in Ferrington, und warum müssen wir da hin?“ Nicks Stimme war vollkommen ruhig, als er ein Rutschen sofort in der Sekunde korrigierte, in der die Räder unter ihnen ausbrachen. Gott sei Dank waren außer ihnen keine Irren auf der Straße, sonst wären sie schon lange tot. Charitys gesamter Körper versteifte sich, als sie um eine weitere Kurve rasten und Nick einen Weg einschlug, den sie schließlich als schlaue Abkürzung nach Ferrington erkannte.
Sie musste sich daran erinnern zu atmen, denn sie war wie hypnotisiert von den hellen Säulen der Scheinwerfer, die zwei gelbliche Tunnel in dem weißen Albtraum bildeten.
Er hatte sie etwas gefragt …
Charity hatte die Augen fest auf die Straße vor ihnen gerichtet und wollte Nick gerade nutzlose Anweisungen zurufen. Als sie seine ruhige Stimme hörte, wandte sie sich ihm zu und sah ihn für eine Sekunde an. Er wirkte extrem ruhig, hatte die Situation offensichtlich vollkommen unter Kontrolle. Sie entspannte sich ein winziges bisschen, genug, um ihre Gedanken zu sammeln.
„Meine Tante und mein Onkel leben in Ferrington oder vielmehr etwas außerhalb. Sie sind schon älter. Mein Onkel hat angerufen, um zu sagen, dass meine Tante verschwunden ist. Er kann sie nirgends finden.“
„Was heißt älter?“
„Onkel Franklin ist siebenundachtzig und Tante Vera vierundachtzig.“
An Nicks Kiefer zuckte ein Muskel. „Soll das heißen, dass eine vierundachtzigjährige Frau vielleicht bei diesem Wetter draußen ist?“
Unglaublicherweise wurde das Auto noch etwas schneller, während Charitys Herz bis zum Hals schlug.
„Ja“, flüsterte sie. „Tante Vera ist manchmal etwas … nun, verwirrt.“
Es fiel ihr unglaublich schwer, das auszusprechen. Onkel Franklin konnte den Gedanken, dass seine geliebte Frau mental verfiel, einfach nicht akzeptieren. Jedes Mal, wenn etwas passierte, erklärte er es damit, dass sie die Grippe oder schlecht geschlafen oder einfach ganz zufällig etwas vergessen hatte. Er weigerte sich, gegenüber der Außenwelt, ihr gegenüber und – vielleicht am tragischsten – sich selbst gegenüber ihre nachlassende geistige Gesundheit zuzugeben.
Das war der Grund, warum er Charity und nicht die Polizei anrief, als seine Frau in einem Schneesturm verschwand. In diesem Fall verstand Charity es sogar. Er hatte vermutlich recht. Ferringtons Polizei bestand aus einem übergewichtigen County Sheriff, der trank und zwanzig Meilen entfernt wohnte. Sein komplett ahnungsloser, beinahe schon geistig zurückgebliebener Deputy wäre sogar noch weniger hilfreich. Sheriff Hodgkins würde Tante Vera niemals finden, nicht in einer Million Jahre. Er konnte nach einer Nacht in der Stadt kaum seinen Weg nach Hause finden.
Und bis Onkel Franklin endlich die Highway Patrol oder irgendeine andere nützliche Stelle erreicht hatte, die tatsächlich effektiv helfen konnte, waren Stunden vergangen und Tante Vera tot.
„Definiere verwirrt.“ Nick sah nicht zu ihr hinüber, aber sie konnte seine Aufmerksamkeit fühlen, als würde er sie mit seiner Hand berühren.
Definiere verwirrt. Schwierig. Onkel Franklin würde am Boden zerstört sein, wenn sie zu viel verriet. Was mit seiner Frau passierte, brachte ihn beinahe um. Er
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