Gefährliches Talent: Kriminalroman
musste blitzschnell nachdenken. Nach rechts konnte sie nicht ausweichen. Es gab keinen richtigen Randstreifen und die sechzig Zentimeter hohe Leitplanke sah nicht stabil genug aus, um sie im Falle eines Falles aufzuhalten. Aber selbst wenn es einen breiten Seitenstreifen gegeben und sie angehalten hätte, was dann?
Links bot sich eher eine Möglichkeit, auch wenn der Pick-up frisiert war, denn dank der geballten Beschleunigungskraft und perfekten Straßenlage des Lamborghini könnte sie sich vor den Pick-up auf die Gegenspur drängen und ihn in Windeseile abhängen. Das hieß aber, sie musste in der Kurve auf der falschen Spur weiterfahren, ohne den Gegenverkehr zu sehen. Und zu allem Überfluss musste sie sich auch noch an dem unglaublich breiten Sattelschlepper vorbeizwängen. Wie würde der reagieren? Wenn sie es geschickt anstellte, könnte der Truck die Spur nicht so schnell wechseln, dass es zu einem Frontalzusammenstoß käme (wobei der Laster wahrscheinlich nur ein paar Beulen davontragen würde, aber der Lamborghini wäre nur noch ein Häufchen Blech), aber er bräuchte nur im richtigen Moment kurz nach rechts zuschwenken und sie würden an der Felswand zermalmt. Die Frage war nur, hatte der Fahrer Zeit genug dafür und würde er schnell genug reagieren?
Aber das würde sie ja jeden Moment herausfinden. »Festhalten«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Jetzt geht’s erst richtig los …«
Sie atmete kurz durch, schaltete runter und trat das Gaspedal durch. In zwei Sekunden waren sie fünfzehn Meter vor dem Pick-up. Dann fuhr sie wieder auf die rechte Spur rüber und raste frontal auf den Sattelschlepper zu (oder umgekehrt). Sie waren so nah, dass sie erkennen konnte, wie dem Fahrer die Kinnlade herunterfiel. Er konnte es nicht fassen. Eine Zeile aus
Don Quijote
schoss ihr durch den Kopf: »Stein gegen Krug, Krug gegen Stein, wird immer des Krugs Verderben seyn.«
»Alix …«, fiepste Chris vollkommen erstarrt mit weit aufgerissenen Augen. »Wir … wir …«
Dreißig Meter vor dem drohenden Zusammenstoß bremste Alix ganz leicht ab, um in die Kurve zu gehen, schwenkte dann abrupt nach links auf die Gegenspur und trat so fest aufs Gas, wie sie sich traute. Der Lastfahrer war total verdutzt und riss schnell sein Lenkrad nach rechts, um sie einzuquetschen. Zu spät. Sie hatten den Auflieger des Sattelschleppers schon halb hinter sich gelassen und das Führerhaus schrammte hinter ihnen an der Felswand entlang. Für den Bruchteil einer Sekunde jubelte sie innerlich, denn sie dachte, sie wären aus der Gefahrenzone, aber dann sah sie, dass der Auflieger wie in einem Albtraum scheinbar in Zeitlupe herumschlenkerte, direkt auf sie zu, und sie jeden Moment gegen die Felswand drücken würde. Sie hatte keine andere Wahl, sie musste noch mehr Gas geben und auf die erschreckend enge und immer enger werdende Lücke zwischen Laster und Felswand zurasen.
Fast hätte sie’s geschafft, aber die hintere Ecke des Aufliegers traf ihren Wagen hart an der Beifahrertür. Mit einem ohrenbetäubenden
PENG
ging der Airbag neben Chris’ Kopf auf, und jetzt war es der Lamborghini, der über die schmale Fahrbahn schlingerte. Alix war nicht so dumm, voll auf die Bremse zu treten, denndann hätte sie die Kontrolle über den Wagen vollends verloren. Stattdessen gab sie sich alle Mühe, im Schleudern gegenzusteuern. Allerdings bedeutete »gegensteuern« auf den Felsrand zu. Aber die Leitplanke war stabiler, als sie aussah. Und zudem federte sie. Als sie dagegenfuhren, prallten sie scheppernd ab und zurück auf die Fahrbahn. Wie in einer Traumszene sah Alix ihre Umhängetasche aus dem offenen Fenster ins Leere fliegen. Der Wagen schleuderte langsam, aber unkontrollierbar herum und auf die Felswand zu. Zuerst würde das Heck dagegenprallen, das konnte sie sehen, aber sie konnte nichts dagegen tun, außer auf die Bremse zu treten und zu beten. Sie zuckte unwillkürlich zusammen und wieder war ein markerschütterndes
PENG
zu hören, als ihr der vordere Airbag ins Gesicht knallte.
KAPITEL 16
Sie wusste nicht, wie lange sie ohnmächtig gewesen war. Aber sicher nicht sehr lange, dachte sie, nur ein paar Sekunden. Geweckt hatte sie ein beißender Geruch, penetrant wie Ammoniak, und als sie ihre Augen öffnete, war der Wagen von grauem Staubnebel erfüllt. Der rührte anscheinend von den Airbags her, die nun langsam in sich zusammenfielen. Ihre Nase tat weh, aber als sie sie anfasste, fand sie kein Blut. Ihre Nase gab
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