Gefährliches Talent: Kriminalroman
schleichend, halb stolzierend ein unbekannter junger Mann auf sie zu. In der Hand hielt er einen Martini auf Eis.
»Hallo, hübsche Frau«, sagte er und hauchte sie mit seiner Ginfahne an. »Kennen wir uns nicht irgendwoher?« Er trug eine schwarze Levi’s und ein eng anliegendes, schwarzes T-Shirt, das seinen mit viel Liebe trainierten Oberkörper und die muskulösen Arme gut zur Geltung brachte. Sein Südstaatenakzent – Mississippi, Alabama, vielleicht Louisiana – wirkte irgendwie anzüglich und plumpvertraulich.
»Ich glaube nicht.« Sie ging einen Schritt zurück.
Er ging einen Schritt vor. »Vielleicht können wir uns kennenlernen.«
Sie wich weiter zurück. »Glaube ich kaum.« Sie erhaschte einen Blick auf den Namensaufkleber direkt unter seinem Schlüsselbein: »Hi! Ich bin Cody Mack Burley.« Es dauerte einen Moment, aber dann erinnerte sie sich wieder. Das war doch Liz’ Schützling, der Maler, dessen Arbeiten Chris nicht in ihrem Lokal ausstellen wollte. Chris hatte sie angewidert als Bilder von seltsam verrenkten Frauen abgetan, deren Eingeweide man sehen konnte. Alix wich noch weiter zurück.
Cody Mack merkte es gar nicht und hielt sein Glas hoch. »Kann ich Ihnen was zu …«
»Vielleicht ein andermal. Entschuldigen Sie bitte, ich muss mich noch anmelden«, sagte sie und wandte sich von ihm ab, aber in letzter Sekunde zwang sie sich dann doch zu einem Lächeln. Schließlich hatte er Liz ziemlich nahegestanden und vielleicht wollte sie ja doch noch einmal mit ihm reden. Aber darüber würde sie sich später Gedanken machen. Jetzt wollte sie einfach nur ins Bett fallen und wieder in Tiefschlaf versinken.
»Sie haben das große Zimmer oben, Mabels altes Zimmer«, sagte Janet, die Frau am Empfang.
»Stimmt«, sagte Alix, obwohl sie es vergessen hatte.
»Und kommt Ms LeMay später?«
»Nein, sie kann nicht. Sie hatte einen Unfall. Ich bin allein.«
»Oh, das tut mir leid. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes.«
»Es geht ihr gut«, sagte Alix. Wahrscheinlich ließ sich Chris gerade von ihrem überaus besorgten, fürsorglichen Craig nach Seattle zurückfliegen und fühlte sich bestens dabei. Waschbäraugen hin oder her.
Die Treppe zu Mabels Zimmer im Obergeschoss lag hinter dem Empfang. Sie war ungewöhnlich schmal und niedrig und schraubte sich an allen vier Seiten des quadratischen Treppenschachts entlang nach oben. Da ihr fast die Augen zufielen, achtete Alix kaum darauf, wohin sie lief, und an der ersten Biegung stieß sie sich den Kopf an der Unterseite der oberen Treppe. Offenbar war sie nicht die Erste, der das passierte, denn man hatte die Treppenunterseite gut gepolstert. Trotzdem tat es weh. Eigentlich mochte sie charaktervolle alte Gebäude, an diesem Abend jedoch hatte sie für dieses Haus nur ein paar deftige Flüche übrig. Sie schaffte es aber ohne weitere Zwischenfälle bis zum Obergeschoss, wo in ihrem müden Hirn alle Eindrücke ineinanderflossen: eine alte Holztür, ein riesiges Zimmer mit Holzfußboden und einem Bett mit dicken Pfosten und dann nichts weiter als die wunderbar glatten, kühlen, sauberen Laken und die wohlige Sanftheit, die sie umhüllte, als sie tiefer und immer tiefer sank.
Sie tauchte erst wieder auf, als das unwiderstehliche Aroma von frischem Kaffee sie wachrief. Der Duft züngelte sich seinen Weg von der Küche her durch die Lücken zwischen den alten Holzdielen. War es schon Morgen? Hatte sie wirklich so lange geschlafen? Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass es so war. Es war noch nicht hell, aber der Wecker am Bett zeigte in roten Ziffern 06:11 an. Sie hatte zwölf Stunden lang fest geschlummert. Kaum zu glauben. So lang hatte sie doch noch nie geschlafen. Allerdings hatte sieauch noch nie einen Tag wie den erlebt, den sie gerade hinter sich hatte. Natürlich abgesehen von kürzlich, als ihre Casita in die Luft geflogen war.
Mann, was für eine Woche
, dachte sie, als sie sich so lange und genüsslich reckte, dass jede Katze beeindruckt gewesen wäre. Der Kaffeeduft war so verlockend und außerdem hatte sie Hunger – sie konnte jetzt auch Pfannkuchen riechen –, aber zuerst musste sie sich dringend um Aussehen und Körperpflege kümmern. Am Vorabend war sie voll bekleidet ins Bett gefallen, ohne sich das Gesicht zu waschen oder die Zähne zu putzen. Sie rollte zum Bettrand und stand auf, gähnte und fühlte sich, als hätte sie die Nacht bei Regen im Freien verbracht und nicht in dem wohl bequemsten Bett auf Erden.
Als sie
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