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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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erzählt – voll Schadenfreude.«
    »Ma-maria?« Ich sah sie vor mir, mit staksigen Schritten den langen Flur entlang.
    »Maria? Sie hieß verdammt noch mal nich’ Maria!«
    »Wie hieß sie denn?«
    »Na, Ruth! Sie hieß Ruth!«

45
    Ich ließ ihn dort stehen, im Flur. Er blieb an der Wand stehen, so lange ich ihn sehen konnte, ohne sich zu rühren, als hielte ich ihn immer noch fest.
    Ich konnte nicht mehr Zeit auf ihn verschwenden. Sein Tag würde kommen.
    Ich fuhr wieder zurück in die Stadt, zu der Adresse, die mir Belinda Bruflåt gegeben hatte.
    Ich parkte den Wagen in einer Seitenstraße und warf ein paar Blicke in die Gegend, um mich zu orientieren. Ich befand mich in einem Stadtteil, in dem die Bebauung aus kleinen Holzhäusern mit Garten drum herum bestand. Ungefähr hier war einmal der Mulelv geflossen, von der Skreddergate zur Mündung in den Fjord. Aber das einzige Gluckern, das man hier hören konnte, war das aus Bierflaschen an hellen Sommerabenden.
    Jetzt gluckerten keine Flaschen. Es war kaum ein Laut zu hören. Die Schneeberge auf den Hausdächern und in den Gärten ließen das Ganze aussehen wie eine gigantische Weihnachtsdekoration, und im Hintergrund erhob sich steil das Sandviksfjell und glitzerte von Reif bis zu den Sternen, während das Floifjell unter einer Decke von schneeschweren Nadelbäumen ruhte.
    Das Licht, das aus den Fenstern strömte, war warm und lebendig. Viele hatten ihren Weihnachtsschmuck aufgehängt, und aus vielen Wohnzimmern leuchtete es schon von frisch angezündeten Weihnachtsbäumen.
    Ich öffnete die Pforte vor dem Haus, in das ich wollte. Im Garten hatten ein paar Kinder Engel in den Schnee gemalt. Ich fühlte mich selbst wie der Engel Gabriel, als ich zur Tür ging, mit knirschendem Schnee unter den Schuhen.
    Ein Mann mit struppigem Haar, etwas zu langen Hosenträgern und einer aufgeschlagenen Zeitung in der einen Hand sah mich ärgerlich an, als er öffnete.
    »Ruth Solheim?« sagte ich. »Wohnt sie hier?«
    Er grunzte passend zum Gesichtsausdruck, murmelte irgend etwas, zeigte um das Haus herum und machte die Tür vor meiner Nase wieder zu. Ich folgte einer einzelnen Fußspur um die Ecke bis zu einem Kellereingang. Rechts von der Tür schimmerte Licht durch vorgezogene, orange Gardinen.
    Ich sah mich um. Es gab keine Klingel, also klopfte ich an.
    Als niemand herauskam, klopfte ich statt dessen an die Scheibe.
    Die Gardine ging zur Seite, und ein Gesicht starrte heraus. Sie hatte dunkelblonde, zerzauste Locken, die sie mit einem roten Band aus der Stirn hielt. Ihre Augen waren dunkel hinter dem Fensterglas.
    Sie starrte mich ein paar Sekunden lang an, dann verschwand sie.
    Gleich darauf öffnete sie vorsichtig die Tür und sah mich an.
    »Ruth Solheim?«
    Sie nickte stumm.
    »Ich heiße Varg. Varg Veum. Ich kenne Belinda – und deine Eltern – und … Roar! Ich soll grüßen, von ihm.« Sollte ich noch mehr nennen, die ich kannte? »Ich … Hast du Zeit, ein bißchen zu reden?«
    Ihre Stimme war dünn, ein Diskant mit Sprüngen. »Um was …«, sie räusperte sich, »… geht es?«
    Ich sah sie an und sagte mild: »Es geht um – alles, was passiert ist. All diese Todesfälle.«
    Sie versuchte, dem Blick standzuhalten, wich dann aber aus und trat zur Seite. Resigniert sagte sie: »Ja, dann komm mal rein.«
    Es war ein kurzer, kalter Kellerflur. Rechts stand eine Tür offen, und ich stieg in ihr kleines Appartement hinein.
    Mitten im Raum stand ein Stahlofen, und die Luft war sehr feucht. Das gab einem das Gefühl, in einer Sauna zu sein, und das Zimmer war auch ungefähr genauso spartanisch eingerichtet. Ein ungemachtes Bett an der einen Wand. Vor dem Bett ein Tisch, und auf einem Sprossenstuhl ein paar Kleidungsstücke. Auf dem Tisch ein paar Ausgaben der christlichen Tageszeitung der Stadt und eine billige Bibel, aufgeschlagen. Das einzige Bild im Zimmer hing direkt über dem Bett. Es war ein Jesusbild von der Sorte, wie man sie als Prämie in der Sonntagsschule erhält. Auf einer Kochplatte stand eine verbeulte Pfanne, und neben der Kochplatte eine offene Tüte fettarmer Milch. Auf einem braunen Papier lag ein halbes Brot, und neben dem Brot eine kleine Packung mit Tütensuppen.
    Es war keine Sauna. Es war eine Klosterzelle.
    Ich nickte zum Tisch. »Du liest?«
    Sie räumte die Kleider vom Stuhl und machte ein Zeichen, daß ich mich setzen sollte. Sie selbst blieb vor dem Bett stehen, als hätte sie Angst, mißverstanden zu werden, wenn sie sich darauf

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