Gefallene Engel
ich: »Was hat er mit dir gemacht?«
Ihre Lippen zitterten. »Das siehst du doch!«
»Ja, aber … Hat er – noch mehr getan?«
Die Tränen liefen ihr aus den Augen, und ich hörte einen Laut wie aus einem Schnorchel in der zerschlagenen Nase. Ich sah, wie sich ihr Hals zusammenschnürte, und sie schnappte nach Luft, als würde sie ertrinken.
»Hat er dich vergewaltigt, Belinda?«
Sie sah mich an mit schwarzen Funken zwischen den verklebten Lidern. Dann zog sie den Morgenmantel fest vor dem Hals zusammen, wie von einem plötzlichen Frösteln ergriffen. Sie nickte stumm.
Die Hitze in meiner Magengegend stieg wie eine Säule am Rückgrat hinauf und wurde zu Eis. »Du mußt ihn anzeigen, Belinda! Was er getan hat, ist strafbar!«
Monoton sagte sie: »Und wer soll das bezeugen? Alle, die im Saal gesessen und meine Show gesehen haben? Alle, die ich – aufgegeilt habe, mit denen ich gespielt habe, von da oben, immer mit sicherem Abstand? Er hat nichts anderes getan, als wovon ihr alle geträumt habt. Du auch! Veum …«
»Aber – nicht auf diese Weise. Nicht so!« Ich hob beide Hände, jetzt zu ihrem Gesicht und schnitt eine Grimasse, wie vor Ekel. »So soll es nicht sein, Belinda!«
»Wenn aber einer nicht will«, sagte sie knapp.
Wir standen da und sahen einander an.
Ich ließ meinen Blick durch das Zimmer gleiten. Das gelbe und grüne Schärenbild sah aus wie ein Ausschnitt aus einem bösen Traum, ein farbenblinder Alptraum. »Ich werde mit ihm reden, Belinda. – Ich habe sowieso noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Ich bin ziemlich sicher, daß er es war, der mich hier das letzte Mal niedergeschlagen hat, und die Frage ist … Könnte er es gewesen sein, der Johnny umgebracht hat – und der vorher auch die beiden anderen um die Ecke brachte?«
Sie sah mich verständnislos an. »Aber warum? – Warum?«
»Vielleicht – vielleicht liegt die Ursache für das alles doch nicht elf Jahre zurück. – Nein, ich weiß nicht. – Wo wohnt er?«
»I-irgendwo in Eidsvågsneset. Die genaue Adresse findest du im Telefonbuch.«
»Und wir reden von demselben Mann, oder?«
»I-ich glaube schon.«
»Wir reden von Stig Madsen, nicht wahr?«
Sie nickte mit einem gequälten Schlucken.
»Aber … Du mußt mir noch eine Adresse geben.«
Sie hob langsam wieder den Kopf. »Und … welche?«
»Die von Ruth Solheim.«
Noch einmal wandte sie sich ab, aber diesmal nicht vor Schmerzen. »Das ka-kann ich nicht.«
»Du kannst! Ich weiß es. Sie kann der Schlüssel zu allem sein. Ich muß mit ihr sprechen.«
»Aber – ich habe sie nicht.«
»Doch, du hast sie. Sie hat es Roar erzählt – da draußen. Du wolltest ihr eine Wohnung besorgen, sagte sie.« Ich sah mich um. »Ja, denn hier ist sie doch wohl nicht, oder?«
Sie wollte den Kopf schütteln, hielt dann inne und faßte sich an die Schläfe, wie um zu zeigen, daß es weh tat. »Nein, sie … Ich habe ein kleines Appartement, das ich vermiete – für den Fall, daß ich mir mal nicht mehr leisten kann …« Sie sah sich um.
»Und wo?«
»In S-Sandviken. Oben in Hodden.« Sie gab mir die genaue Adresse, und ich notierte sie.
»Und da – finde ich sie?«
»Da war sie jedenfalls, als ich zuletzt mit ihr gesprochen habe.«
»Warum hast du ihr – so geholfen?«
»Weil ich sie dort draußen kennengelernt habe. Mein Vater …«
»Ja, das habe ich gehört. Wußtest du, daß sie Johnnys Tochter war?«
»Zu Anfang nicht.«
Ich dachte nach. »Wann hast du es erfahren?«
»Das – weiß ich nicht mehr.«
Ich nickte. »Okay. Dann will ich nicht … Aber bevor ich gehe, würde ich gerne die Polizei anrufen und das hier melden.«
Sie hob abwehrend die Hand. »I-ich werd’ es selbst tun. Ich verspreche es. Ich muß nur – erst mal baden.«
»Du machst keinen Blödsinn?«
»Nein nein, nein.«
Ich sah sie lange an. Dann steckte ich mein Notizbuch in die Tasche, bedankte mich und wünschte ihr Glück, bei allem.
Als ich vor der Tür war, hörte ich, daß sie sich beeilte, die Sicherheitskette wieder vorzuhängen.
Ich sah ins Treppenhaus hinauf und lief schnell zum nächsten Absatz, um sicher zu gehen, daß sich die Episode vom letzten Mal nicht wiederholte.
Alles war leer. Der Vogel war entflogen. Aber ich wußte, wo er seinen Käfig hatte, und ich war auf dem Weg dorthin.
44
Stig Madsen wohnte in einem niedrigen Block in Lonborg, auf der Mitte zwischen Eidsvågsneset und Helleneset. Von hier aus schien es über den Fjord nach Askøy für die Menschheit nur
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