Gefangen im Terror (German Edition)
Altersklasse gewesen und es war mehr als einmal geschehen, dass sie auf Fatma besonders stolz sein konnte. Keines der Mädchen aus den anderen Familien war zum Studium fort gewesen oder hatte je gearbeitet. Die meisten waren schnell verheiratet worden und bekamen Kinder. Fatma war ihr so lieb wie ein Sohn und sie hatte sie immer unterstützt, auch gegen ihren Mann. Als sich Fatmas Vater wieder unter Kontrolle hatte, ließ er seine Frau alleine und ging wieder. Mit gesenktem Kopf überquerte er die Straße und ging nahe an den Häusern entlang. Er musste in Erfahrung bringen, was in der Schule geschah. Der Krieg mit den Russen hatte ihn zermürbt und jetzt passierte es direkt vor seiner Haustüre und er musste tatenlos zusehen.
Kurz nach der Geiselnahme war es einigen Frauen gelungen, mit ihren Kleinkindern freizukommen. Sie berichteten den Wartenden von der unglaublichen Brutalität der Bewacher und den verheerenden Zuständen in der Turnhalle. Die Bevölkerung war entsetzt. Warum unternahm die Miliz und das Militär nichts? Warum tat die Regierung nichts? Wer führte Verhandlungen mit den Geiselnehmern? War die Regierung informiert und wer waren die Geiselnehmer?
Es gab so viele Fragen und keine Antworten. Der russische Apparat arbeitete langsam, das wussten alle, aber dass die Öffentlichkeit nicht informiert wurde und wieder einmal Tatsachen bewusst verschwiegen wurden, so lange es nur möglich war, zeigte einmal mehr, wie wenig die Randgebiete Russlands das Interesse der Regierung wecken konnten. Eine Geiselnahme dieses Ausmaßes, nur vergleichbar mit der im einem Konzertsaal in Petersburg, wo das Musical „Nord-Ost“ aufgeführt wurde, wäre Grund genug, einen Krisenstab vor Ort zu installieren und alle Möglichkeiten der Verhandlung auszuschöpfen. Auch die Geiselnahme von Budionowsk fiel Fatmas Vater wieder ein. Damals waren in einem Krankenhaus 200 Menschen umgekommen. Die Geiseln der Schule würden das gleiche Schicksal erleiden, wenn nichts geschah, um sie zu befreien. Es gab immer mehr Tote und Verletzte und die Angehörigen, die am Rande des Schlachtfeldes tatenlos zusehen mussten, waren dem Verzweifeln nahe. Fatmas Vater war unter ihnen und auf die Frage, ob seine Tochter auch in der Schule war, nickte er nur wortlos.
Chamil saß in dem unbewohnten Haus gegenüber der Schule und hatte wie immer, wenn er unterwegs war, seine Schreibutensilien dabei. Er beschrieb den Tatort von außen, die Bewegungen des Militärs. Er hatte gesehen, wie Tote aus dem Fenster der Schule geworfen wurden. Er war Journalist. Seine Aufzeichnungen würden in zwei Tagen in der amtlichen Zeitung erscheinen. Er wollte Karriere machen, um jeden Preis. Die Geiselnahme war ein perfekter Anlass, seiner Redaktion zu beweisen, wie gut er war.
Dass Fatma mitten in dem Geiseldrama steckte, machte ihn fast verrückt. Er musste unentwegt an sie denken. Sie war so hilflos, so unschuldig. Natürlich konnte er ihr von außen nicht helfen. Vielleicht war sie schon tot. Es hatte viele Tote gegeben und einige lagen vor den Fenstern der Schule. Man hatte sie einfach hinausgeworfen. Zuerst hatten die Geiselnehmer gefordert, dass man die Toten wegholte. Als dann Helfer auf die Schule zugegangen waren, hatten sie das Gewehrfeuer eröffnet und zwei der Helfer erschossen. Die anderen konnten entkommen.
Inzwischen waren bereits zwei Tage vergangen. Chamil hatte sich nicht fortbewegt von seinem Beobachtungsposten. Er fürchtete für die Geiseln das Schlimmste. Die Toten lagen von Mücken übersät schon seit zwei Tagen auf dem Schulgelände. Niemand hatte mehr versucht, sie zu bergen. Chamil saß vor dem Fenster und beobachtete weiter den Schulhof. Wenn er nur rechtzeitig zur Stelle gewesen wäre, dann hätte er Fatma vor diesem Drama bewahren können.
In der Turnhalle gab es einen Tumult, unsere Bewacher waren mit dem Gewehr im Anschlag hinein gelaufen. Einen Augenblick waren wir allein. Wir saßen bewegungslos auf dem Boden und wagten nicht aufzustehen und wegzulaufen. Es gab wieder Tote und Schwerverletzte. Wir erfuhren nicht, was geschehen war. Wir konnten nur vermuten, dass wieder einer der Geiseln die Nerven durchgegangen waren und sie sich unbedacht verhalten hatte.
Die Terroristen selbst trugen die zerfetzten Leiber hinaus. Wahrscheinlich hatten sie Handgranaten geworfen. Ich drehte den Kopf zur Seite, um nicht hinsehen zu müssen. Überall war Blut, mein Magen rebellierte, aber er war leer und ich würgte nur. Die Tränen liefen mir
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