Gefangen im Terror (German Edition)
und riefen: „Lauft, lauft schon! Schneller, schneller!“, Wir rannten blindlings so schnell wir konnten. Die Gänge waren bereits übersät mit Toten und Verletzten, über die wir in der Eile stolperten.
Im Vorbeirennen erkannte ich unsere Nachbarin. Sie lag mit verdrehten Gliedern an der Seite des Ganges und starrte an die Decke. Ich konnte nicht sehen, ob sie noch lebte. Sie hatte ihren jüngsten Sohn zur Einschulung gebracht. Ihr liebstes Kind, der erste Junge nach vier Mädchen. Doch Ali war nicht bei ihr.
Ich hielt Ismael noch fester an der Hand. Er war mein Neffe und ein besonders zarter Junge. Da seine Mutter krank war, hatte sie ihn mir anvertraut, weil ich ja sowieso in die Schule musste, ich war als Lehrerin für Geschichte seit zwei Jahren hier angestellt. Seine Mutter sagte zu mir: „Ismael möchte, dass du ihn mit zur Schule nimmst.“ Er will lieber mit dir als mit seinen Schwestern gehen. „Denke daran, dass wir sehr stolz auf ihn sind. Er ist unser ganzes Glück.“
Er war auch oft bei uns zuhause gewesen, weil seine Mutter eine Freundin meiner Mutter war. Er wurde von allen verhätschelt, weil er ein so ruhiger und lieber Junge war, nicht so frech und laut wie andere. Ismael liebte Bücher. Wenn er bei uns war, fragte er immer, ob er meine Schulbücher ausleihen durfte. Das Geschichtsbuch hatte es ihm besonders angetan. Er konnte stundenlang in einer Ecke sitzen und sich ein Bild anschauen.
Mit Freude waren wir gestern auf dem Schulhof angekommen. Ismael hatte einen dunklen Anzug an und eine weiße Schleife um. Er war so aufgeregt, endlich auch in die Schule zu kommen, in der seine vier Schwestern waren. Ich hatte mein bestes Kleid angezogen. Es war aus blauem Wollstoff. Für Chamil hatte ich aus dem gleichen Stoff eine Hose genäht. Er hätte sie heute bekommen sollen.
Jetzt saß ich mit meinem neuen Kleid im Schmutz. Meine Haare klebten am Kopf, der Schweiß lief mir über das Gesicht und meine Hände waren nass und kalt. Meine beiden Beine waren eingeschlafen und ich wagte nicht, sie zu bewegen.
Gerade waren wir Zeugen geworden von einem Konflikt unter den Terroristen. Zwei jüngere Männer hatten sich dafür ausgesprochen, Kleinkinder freizulassen. Der Streit wurde immer lauter. Es waren schließlich tschetschenische Kinder und Jungen und Mädchen aus den umliegenden Bergen, die hier als Geiseln saßen. Man sah es an ihrer dunklen Hautfarbe. Warum sollten sie für eine Sache sterben, die die Russen betraf? Wir hörten alle mit angehaltenem Atem zu. Der Streit eskalierte. Es endete damit, dass die beiden Fürsprecher von den eigenen Leuten niedergeschossen wurden. Die Leichen blieben vorerst unbeachtet liegen. Dann mussten sie ein paar männliche Geiseln zum Fenster hinauswerfen. Der brutale Umgang mit den eigenen Männern entsetzte mich, da es klar war, sie würden vor Nichts halt machen.
Das Sitzen auf dem Boden vor der Turnhalle wurde immer mehr zur Qual. Ich war eine der wenigen, die sich in dieser Schule auskannten. Die anderen Frauen waren Mütter, die diese Schule zum ersten Mal mit ihren Kindern betreten hatten. Ich kannte jeden Winkel und in diesem Trakt gab es keinen Ausgang, sondern nur eine Treppe nach oben. Obwohl ich mir ständig den Kopf zerbrach, wie ich hätte fliehen können, war mir klar, dass jeder Fluchtversuch einem Selbstmord gleichkam. Die Rettung musste von außen kommen. Wir waren den Terroristen hilflos ausgeliefert. Die wenigen Männer, die dabei gewesen waren, hatten sie schon getötet. Es gab nur noch ein paar ältere Männer und viele Frauen und Kinder. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum sie so viele Kinder gefangen hielten. Nur ein paar Mütter mit weinenden Säuglingen hatten Sie freigelassen, weil ihnen wahrscheinlich das Geschrei auf die Nerven gegangen war. Später erfuhren wir, dass es den Verhandlungen eines russischen Arztes zu verdanken war, dass wenigstens diese Kinder und Frauen überlebten. Selbst wenn Chamil bei mir gewesen wäre, er hätte nichts ausrichten können. Er wäre genau wie die anderen Männer abgeführt und erschossen worden.
Wahrscheinlich war er draußen und so konnte ich hoffen, dass ihm nichts zugestoßen war und so war ich wenigstens in Gedanken bei ihm. Ich betete inbrünstig zu Allah und hoffte, dass er meinen zukünftigen Mann verschonen würde. Wenn Chamil gesehen hatte, was vorgefallen war, würde er sicher sofort etwas unternehmen und die Miliz oder die Behörden verständigen. Ich hoffte immer noch, dass es
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