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Gefangen

Gefangen

Titel: Gefangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Lim
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Augen sieht. Wieder runzelt er die Stirn, und ich würde am liebsten sein Gesicht in meine Hände nehmen und die Linien glätten, die da gar nicht sein sollten. Sie lassen ihn älter und verhärmt aussehen. Ein Typ in seinem Alter sollte mit Mädchen rummachen und trinken bis zum Umfallen oder was auch immer.
    „Wieso glaubst du, dass du mir helfen kannst?“, fragt er leise. Es liegt kein Ärger in seiner Stimme. Nur müde Verzweiflung.
    Ich kann ihm diesen Kommentar nicht verübeln. Schließlich reiche ich ihm gerade mal bis zum Nabel. In Carmens Körper sehe ich aus, als könnte jeder Windhauch mich umblasen, auch wenn ich mich innerlich ganz anders fühle. Und was habe ich überhaupt zu bieten? Nichts als einen unbewiesenen Verdacht, der mir noch lange nicht das Recht gibt, Ryans falsche Hoffnungen zu nähren.
    Widerstrebend schiebe ich mich an ihn heran und nehme meinen Mut zusammen, bevor ich probeweise sein nacktes Handgelenk berühre. Ich muss herausfinden, ob an den Gerüchten etwas Wahres dran ist, ehe ich mich auf diese Sache einlasse. So etwas bringt meist Ärger mit sich; ich weiß, wovon ich rede.
    Es beginnt als Schmerz in meiner linken Hand, als Druck hinter meinen Augen. Dann zündet der Kontakt zwischen Ryan und mir, aber diesmal ist es nicht, als würde ich geopfert und bei lebendigem Leibe verbrannt, so wie es bei seinen Eltern der Fall war. Ryans Kummer ist anders, weil er glaubt, dass Lauren noch lebt. Ich spüre Hoffnung und das lindert den Schmerz. Diesmal habe ich nicht das Gefühl, mitten in einem lodernden Begräbnisfeuer zu stehen. Es ist erträglich, ein dumpfer Schmerz, der nicht vergeht, aber zu beherrschen ist.
    Ich weiß nicht, wonach genau ich suche oder wie diese Übertragung von Gedanken und Gefühlen funktioniert. Ich empfange noch mehr Bilder von Lauren. Dabei kann ich nicht sagen, ob ich das alles selbst in ihrem Zimmer gesehen habe oder ob es nur im Kopf ihres Zwillingsbruders existiert. Aber ich spüre es auch. Ryan trägt einen Teil von Lauren in sich, etwas, was weit über flüchtige Erinnerungen hinausgeht. Die Verbindung fühlt sich frisch an, neu. Es ist unheimlich. Schwach wie der verblichene tag eines Graffiti-Sprayers, den der Regen nicht ganz auslöschen konnte. Eine ausgestreckte Hand. Ein Hilferuf. Ein schwaches „Rette mich!“.
    Ungewollt kommt mir das Latein in den Sinn: Salva me.
    Ich sehe bruchstückhaft, was Ryan gesehen oder getan hat, seit Lauren verschwunden ist: eine Szene, ein Gesicht nach dem anderen, wie eine Lawine. Angst. Viel Angst. Wie heute, als Ryan mit mulmigem Gefühl einen verlassenen Gebäudekomplex abgesucht hat und vor jedem Schatten zurückzuckte. Als er den Boden mit einem Eispickel auf Unberührtheit testete, und das alles, während er im Unterricht hätte sein müssen. Verschüttete Gedanken drängen ans Licht, Erinnerungen an Faustkämpfe, Raufereien, das Innere einer Gefängniszell e … eines dunklen Kellers, einer Schwärze, die nur vom Atmen eines gebrochenen Menschenwesens erhellt wird.
    Ich weiß nicht, wie lange wir so dastehen, aber schließlich unterbricht Ryan die Verbindung, schüttelt ärgerlich meine Hand ab, die nur leicht auf seiner liegt. Die Geisterwelt verblasst, und der Vorgarten der Daleys tritt wieder in mein Bewusstsein, der schwache Salzgeruch in der Luft, das hysterische Hundegekläff. Ich bin nicht länger taub und blind für diese Dinge.
    „Ich brauche dein Mitleid nicht. Und erst recht nicht deine Hilfe.“ Ryans Stimme ist rau. Er versucht die Haustür zu öffnen, ohne mich noch mal anzusehen. Er scheint wild entschlossen, notfalls mich und die ganze Welt der Zweifler auszusperren. Aber meine Worte lassen ihn herumfahren. Fassungslos starrt er mich an.
    „Ich weiß, wo du heute warst, und ich glaube, du bist auf der falschen Spur. An deiner Stelle würde ich mir mal das Haus nebenan ansehen. Wenn du schon graben willst, dann dort.“

Kapitel 7

    „Woher weißt du das?“, fragt er mit leiser Stimme und zieht mich zur Haustür hinein, die er sofort unsanft hinter uns zuknallt.
    Er hält mich noch immer am Ärmel meiner Jeansjacke fest, als seine Mutter aus der Küche ruft: „Ryan, bist du das, Schatz? Carmen?“
    Keiner von uns beiden antwortet, stattdessen starren wir uns gegenseitig nieder.
    Schritte nähern sich und plötzlich kommt Bewegung in Ryan. Er stößt mich vor sich her die Treppe hinauf. „Ja!“, ruft er vom Treppenabsatz herunter, während er mich von Laurens geschlossener Zimmertür

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