Gefangen
himmlischer Gnade
Die Herzen, die du erschufst.
Diese Worte lösen eine plötzliche, namenlose Traurigkeit in mir aus. Es dauert mehrere Seiten, bis ich registriere, dass die grimmige, grauhaarige Lehrerin aus dem Bus, die an der Seite hin und her läuft und zornig die Fäuste ballt, meinen Blick aufzufangen versucht. Ihre ruckartigen, spinnenähnlichen Bewegungen bleiben nicht unbemerkt, und überall im Saal recken sich Köpfe nach ihr. Unter der Oberfläche der gewaltigen Musik breitet sich aufgeregtes Geschnatter aus.
Plötzlich kann die Frau ihre Wut nicht länger bezähmen. „Carmen!“, brüllt sie über den Orchesterpart hinweg.
Entsetzt begreife ich, dass ich meinen Einsatz verpasst habe und dass es nicht der erste gewesen sein kann.
Ich sehe die Frau an und schüttle den Kop f – Miss Fellows, heißt sie, glaube ich. Dann hebe ich ratlos die Hände. Sie kommt mir vor wie eine Zeichentrickfigur, wie sie da auf und ab hüpft und sich das kurze Haar rauft, das von ihrem Kopf absteht wie die Stacheln eines gefährlichen Raubtiers.
M r Masson stellt das Band mit der Orchestereinspielung ab. „Gibt es ein Problem?“, fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen.
Die Lehrer der anderen Schulen blicken neugierig zu mir: ein griesgrämiger, weißhaariger Mann in einem staubigen schwarzen Anzug und ein schlanker, gut aussehender Typ, der fast zu jung für einen Lehrer aussieht. Die Mädchen der St.-Joseph’s starren mich ebenfalls alle an und zischen Kommentare aus den Mundwinkeln. Das ist nichts Neues für Carmen, nehme ich an. Andere im Raum tuscheln und zeigen mit Fingern auf mich. Da ist sie, da sitzt das Problem.
Ich bin wieder mal der stille Punkt im Zentrum einer wirbelnden Welt, und Carmens Gesicht wird ganz heiß, als ihr das Blut in den Kopf schießt. Ich kann nichts dagegen tun. Ich hasse es, wenn ich Fehler mache.
„Nein, nein, kein Problem“, bellt Miss Fellows. „Tiffany, du übernimmst Carmens Part. Rachel, du springst für Tiffany ein. Carmen, du setzt erst mal aus. Also, ab Phrase sieben.“
Tiffany wirft mir einen triumphierenden Blick zu und erhebt ihre Stimme, nachdem M r Masson die Orchestermusik wieder angestellt hat. Ich lese hastig von links nach rechts ab Phrase sieben und merke zu spät, dass Tiffany eine der Solistinnen sein muss.
Mist, denke ich plötzlich. Dann muss Carmen das auch sein.
Der verdammte erste Solosopran. Wenn sie gerade ansprechbar ist.
Kapitel 6
Ich sitze schweigend da, eine gefühlte Ewigkei t – bis die Glocke zur ersten Stunde läutet und die Schüler ganz erleichtert zur Tür hinausstapfen. Die anderen Mädchen von der St.-Joseph’s werden auf einer Woge von männlichen Bewunderern davongetragen, was für die meisten von ihnen eine neue Erfahrung sein muss. Miss Fellows und Miss Justin, die zweite St.-Joseph’s-Lehrerin, kommen voll selbstgerechter Empörung zu mir herübergedampft. Sie erlauben mir nicht, den Raum zu verlassen oder auch nur von meinem Platz aufzustehen.
„Du hast nicht nur dich selbst blamiert“, blafft Miss Fellows ohne Einleitung los, „sondern allen anderen ihren Auftritt verdorben. Delia hat auf deine Einsätze gewartet, und was machst du?“ Miss Fellows tobt, als könnte sie jeden Moment explodieren und zu einer Wolke aus Schwefeldampf verpuffen, aber ich höre nur mit halbem Ohr hin. Einige von Tiffanys Worten gehen mir nicht aus dem Kopf, ich jage ihnen nach durch Carmens unzuverlässige Gehirnwindungen. Aber es hilft nichts, ich muss nun mal mit dem vorliebnehmen, was ich habe.
Miss Dustin legt ihre Hand beschwichtigend auf Miss Fellows Arm und unterbricht sie mitten in ihrer Schimpftirade. Wie bei einem Polizeiverhör nehmen sie mich in die Mangel, der böse und der gute Cop. Man muss kein Genie sein, um zu erraten, wer wer ist.
„Stimmt was nicht mit dir, Carmen?“, fragt Miss Dustin und blickt mich durch ihren lächerlichen Pony an. „Du bist seit gestern gar nicht du selbst. Brauchst du Hilfe?“
Ich kann mir kaum das Lachen verkneifen und flüchte mich in einen wenig überzeugenden Hustenanfall. Von Carmens Standpunkt aus gibt es im Moment nicht viel, was gut läuft, aber wie soll ich das den beiden hier erklären, diesem Dick-und-Doof-Gespann? Ich zucke die Schultern, auch wenn ich wahrscheinlich die Zerknirschte spielen müsste. Und das bringt Miss Fellows wieder auf die Palme.
„Du benimmst dich wie ein Junkie, seit wir hier sind, Zappacosta. Morgen ist deine letzte Chance, sonst übernimmt Tiffany deinen
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