Gefangen
Mitternacht, und ich dachte schon, die Daleys würden nie zu Bett gehen. Endlich höre ich, wie sie sich im Schlaf hin und her wälzen, der zu ihrer ureigenen Hölle geworden ist.
Auf der Treppe erstarre ich eine Sekunde lang, als Mr s Daley aufschreit: „Gib sie mir!“, mit einer Stimme, die keine Ähnlichkeit mit ihrem normalen Tonfall hat. Als kämpfte sie gerade mit dem Teufel und der Teufel bliebe Sieger.
Ryan wartet bereits an der Haustür, den vollgepackten Rucksack zu seinen Füßen, ein klumpiges, unförmiges Etwas. „Ich dachte schon, du kommst nicht“, knurrt er, die Hand auf der Klinke.
„Warte!“, wispere ich. „Die Hunde.“
„Ach ja, stimmt“, sagt er stirnrunzelnd. „Wir würden sie garantiert aufwecken. Wir müssen über das Grundstück der Charltons.“
Wir gehen den Flur entlang zur Küchentür. Als ich in einen Flecken Mondlicht trete, starrt mich Ryan durchdringend an.
„Was ist?“, frage ich.
„Nichts.“ Er schüttelt den Kopf und öffnet leise die Tür. „Los, rauf und rüber! Schnell!“
Ryan klettert über den Palisadenzaun, der die Grundstücke der Daleys und der Charltons trennt, die wenigstens keine Hunde haben. Er fängt mich mühelos auf, nachdem ich mich hinübergezogen habe. Bevor uns jemand entdecken kann, sind wir schon auf der Straße und laufen in Richtung Norden.
„Die Kirche liegt in dieser Richtung“, sagt Ryan kurz angebunden, als bereute er bereits, dass er mich mitgenommen hat. „Sieh zu, dass du nachkommst.“
Er sieht sich kein einziges Mal nach mir um, als wir Block um Block hinter uns lassen. Obwohl die Laternen nur trübes Licht spenden, behalte ich ihn mühelos im Blick. Die Straßen sind verlassen und die Nacht ist so eisig, dass selbst die Abgehärtetsten drinnen bleiben. Nichts und niemand kann uns aufhalten und plötzlich stehen wir vor dem hüfthohen Drahtzaun, der die Presbyterianer-Kirche von der Straße trennt.
Im Dunkeln sehen Kirche und Nebengebäude klein und wenig einladend aus. Wir stehen auf dem Fußweg vor der Parkplatzzufahrt im Schatten einer ausladenden Kiefer und lauschen einen Augenblick lang. Als könnten wir, wenn wir uns nur genug anstrengen würden, Lauren hören, eine Lauren, die gerade noch atmet, sich gerade noch am Leben hält.
„Komm“, sage ich schließlich und gebe Ryan einen kleinen Schubs in den Rücken. „Das Pfarrhaus ist da hinten.“
Ich zeige auf einen kleinen einstöckigen Klinkerbau neben dem Parkplatz. Im Vorgarten grüßt uns ein Schild mit der Aufschrift: „Seelsorgerische Betreuung“. Ordentlich und gerade ragt es im Blumenbeet auf. Nirgends brennt Licht. Es wird Zeit, dass wir zu suchen anfangen.
Ich schleiche im Schatten des Baumes vorwärts, aber Ryan rührt sich nicht.
„Jetzt komm schon!“, zische ich. „Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen es jetzt hinter uns bringen.“
Ich lege keinen Wert darauf, dass Carmen hier ohne guten Grund zusammen mit Ryan Daley erwischt wird. Ich habe ihr schon genug Ärger eingebrockt. Von jetzt an muss alles nach Vorschrift laufen. Das habe ich Carmen und mir geschworen.
Ryan steht immer noch reglos da und starrt mich merkwürdig an. Seine Augen wirken riesig in seinem blassen Gesicht.
„Was ist?“, frage ich.
„D u … ä h …“, sagt er zitternd.
„Jetzt spuck’s endlich aus!“, fauche ich. „Als Chormädchen muss ich morgen früh aufstehen, falls du das vergessen hast, und die Nacht wird auch nicht länger.“
Seine Hände bewegen sich unstet durch die Luft. „D u … ä h … du leuchtest!“
Ich blicke auf meine Hände hinunter, halte sie an mein Gesicht. Er hat Recht. Hier im Dunkeln liegt auf meiner Haut ein schwacher Glanz, ein ganz heller Perlmuttschimmer. Ein Schimmer, der meine unmittelbare Umgebung erleuchtet.
Ich runzle die Stirn, und dann weht mich eine dunkle Erinnerung an das Mädchen aus dem Buchladen an, das Mädchen, dessen Namen ich vergessen habe. Ihr neuer Freund hat etwas Ähnliches gesagt, als wir in einer mondlosen Nacht auf dem Heimweg waren. Wir hatten den ganzen Abend getrunken und herumgekichert, obwohl der Schwips bei mir nur gespielt war. Ich mag Bier nicht, aber ich hatte eine Menge in mich reingekippt, ohne dass ich etwas davon spürte. „Das muss die Liebe sein“, antwortete ich damals verwirrt. „Oder die Bierbrille, Bernie.“ Er lachte, und am nächsten Morgen, am helllichten Tag, war alles vergessen. Kurz danach ging ich fort und ließ das Mädchen mit seiner neuen Liebe zurück. Bernies
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