Gefangen
schlecht aus, sofern man auf die Sorte „braves Muttersöhnchen“ stand und die auffälligen Narben an seinen Wangen übersah, Spuren einer hartnäckigen Akne. „Ohne die Sache mit Lauren hätten sie ihn schon längst eingeliefert“, setzt er nach.
„Lauren war echt heiß“, warf ein riesiger Bass namens Todd ein, der jetzt noch wie ein Footballspieler gebaut ist, aber später garantiert Fett ansetzen wird. „Schade, echt.“
Wie geschmackvoll. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er gleich einen dummen Spruch abgesondert hätte wie: Es gibt genug hässliche Weiber auf der Welt, auch ohne dass man die scharfen abmurkst. So war es jedenfalls gemeint. Als ob einer wie der die geringste Chance bei Lauren gehabt hätte.
„An den beiden war immer irgendwas komisch“, lästerte eine zierliche, hübsche Rothaarige, die ich von einem Foto auf Laurens Kommode kannte. Dort posierten die beiden Mädchen eng umschlungen in einem Freundschaftsrahmen: „Freunde fürs Leben“. „Das ging viel tiefer als die übliche Zwillingsgeschichte. Die Polizei hätte Ryan vielleicht ein bisschen genauer unter die Lupe nehmen sollen.“
„Und Brenda muss es wissen“, fügte der Pickeltyp hinzu. „Wo sie doch seine Ex ist und alles.“ Er leckte sich über die Lippen, als er uns ahnungslose Außenseiterinnen über diese Tatsache aufklärte.
Ich fixierte eine Sekunde lang Brenda und fragte mich, was Ryan in ihr gesehen hatte. Wahrscheinlich fand er sie hübsch. War sie auch, auf eine supergestylte, topmodische, unnahbare Art.
Tiffany, Delia und Co wechselten triumphierende Blicke, als die Einheimischen uns mit zur Schulkantine schleppten, um uns noch mehr Details über Lauren Daleys Entführung und die schlimmen Folgen für alle Betroffenen zu verraten. Den ganzen Tag lauschte ich still in meiner Maskierung als Carmen, die Spielverderberin, Carmen, die öffentliche Schande, Carmen, dieses Nichts und Niemand, und wurde von Stunde zu Stunde wütender. Wer sagt, dass über Tote nichts Schlechtes geredet wird? Lauren verdiente es, gefunden zu werden, und sei es nur, um diesen Heuchlern das Maul zu stopfen.
Als die Glocke am Ende des Tages läutete und ich die Schule verließ, um durch die Stadt zum Haus der Daleys zu gehen, war ich mit meiner Suche nach Ryan nicht weitergekommen als mit der nach seiner Schwester. Ich ging an verstaubten Schaufenstern vorbei, die großspurig verkündeten: „Shoppen Sie hier zu himmlischen Preisen!“ Der Witz war sicher durchaus beabsichtigt. Da kam mir der Gedanke, dass ich diesmal vielleicht wirklich dazu verdammt war, Däumchen zu drehen. Das Unglück war fast zwei Jahre her, das Mädchen sicher nicht mehr zu retten, und klügere Köpfe als ich hatten bereits alle Fahndungsmöglichkeiten ausgeschöpft. Die Spur war mit Sicherheit kalt. Nur hatte es bisher niemand geschafft, Ryan Daley davon zu überzeugen.
Ich sehe ihn, als er seine Straße vom Nordende her überquert. Er kommt aus der entgegengesetzten Richtung und geht zum Gartentor, einen schweren Rucksack über der Schulter. Er runzelt die Stirn, als er meinem Blick begegnet, und bleibt stehen. Ich winke, eine typische Mädchengeste, aber ich war noch nie fähig, mich natürlich zu benehmen.
Misstrauisch gehen wir aufeinander zu und im selben Moment fangen die Dobermänner mit ihrem gruseligen Gekläff an.
Als wir schließlich am Zaun zusammentreffen, knurren und beben die Bestien, als hätten sie Tollwut im Endstadium, und stoßen geifernd ihren scharfen Klauen durch die Zaunlücken. Ryans Timing könnte nicht besser sein: Was würde ich machen, wenn er nicht da wäre und mich hereinlassen würde? In der Nachbarschaft um Hilfe schreien? Zur Haustür fliegen?
„Die Hunde mögen mich nicht“, sage ich lahm statt einer Begrüßung.
„Was du nicht sagst.“ Ryan schaut mich ungläubig an, starrt auf meine lächerlichen eins sechzig herunter und fragt sich vermutlich, was an mir so furchterregend sein soll. „Warte hier.“
Wie sein Dad am ersten Tag zerrt er die Dobermänner mit Gewalt hinter den Seitenzaun, einen nach dem anderen, und sperrt sie ein. Die Hunde hören keine Sekunde lang mit ihrem Radau auf.
Ryan schultert seinen Rucksack und geht wortlos zur Haustür. Nicht gerade freundlich. Aber immerhin hat er mir die Höllenhunde vom Hals geschafft.
Also schreie ich ihm lauthals nach: „He, ich möchte dir helfen. Sie zu finden, meine ich.“
Und das reicht, damit er mich anschaut, mir eine Sekunde lang richtig in die
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