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Gefangen

Gefangen

Titel: Gefangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Lim
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weg- und zu seiner hinsteuert, zu dem Raum auf der anderen Seite von Laurens Badezimmer.
    „Ich hatte bloß Angst wege n … wegen der Hunde“, sagt Mr s Daley.
    Ich erhasche einen undeutlichen Blick auf meine Gastmutter, die unten in der Tür steht und den Kopf zu Ryan hochreckt. Aber der ist nur ein verschwommener Wirbel aus Armen und Beine n – immer am Weglaufen. Jeder in diesem Haus hat seine Geheimnisse, seine Wunden, seine Einsamkeit.
    Ryan brüllt: „Alles okay, Mum. Ich muss an einem Referat arbeiten. Bin sowieso schon spät dran.“
    Dann stehe ich in seinem dunklen Schlafzimmer, mit klopfendem Herzen, nahe genug, um Erde und Schweiß auf seiner Haut zu riechen.
    Der Raum ist karg wie eine Mönchszelle: ein Bett, ein Stuhl, zwei kahle Schranktüren, die mir nichts über den Menschen verraten, der hier lebt. Kein Krimskrams. Keine Sporttrophäen, Magazine, Poster, keine muffigen Turnschuhe, auch keine CD-Anlage. Nichts, was man in einem Jungenzimmer erwartet. Eigentlich ist es nur ein Schlafplatz, ein ungemütliches Motelzimmer in dem makellosen, einförmigen Weiß von Louisa Daley, ihrer unverwechselbaren Handschrift. Einzige Ausnahme: Ein riesiges Foto von Lauren hängt über dem Bett, ein improvisierter Schrein für seine vermisste Schwester. Sie lacht in die Kamera, den Kopf leicht zur Seite geneigt, und blickt uns geradewegs in die Augen.
    Ich trete näher an das Porträt heran, studiere den breiten Mund, die lebhaften, dunklen Augen, die Ryans Augen so ähnlich sind. Aber Lauren ist ein zartes, aschblondes Geschöpf, während Ryans Haar so dunkel ist, dass es fast schwarz wirkt. Die beiden sehen überhaupt nicht wie Zwillinge aus.
    Vielleicht hatte das Mädchen Recht. Vielleicht sind Ryan und seine Schwester tiefer miteinander verbunden als Zwillinge sonst, und ich sollte mich jetzt schleunigst herauswinden. Ihm sagen, dass alles ein Fehler war: Tut mir leid, dass ich meine Nase da reingesteckt habe, wie konnte ich nur? Aber ich tue nichts dergleichen. Ich liebe die Herausforderung.
    „Sie ist schön“, sage ich.
    Ryan lässt meinen Arm los, wirft seinen Rucksack auf den Boden und ignoriert meinen Kommentar.
    „Woher wusstest du das?“, fragt er noch mal in barschem Ton. „Wegen heute, meine ich. Und glaub ja nicht, du kannst mich mit irgendwelchem Bockmist abwimmeln, Chormädchen!“
    „Ich hab dich gesehen“, sage ich. Natürlich nicht mit eigenen Augen, aber das braucht er nicht zu wissen. Vertrauen hat hier nichts verloren. „Du hast herumgegraben.“
    Sein Blick irrt zur Seite zu seinem verlassenen Rucksack, dann schaut er wieder mich an. „Ach ja?“, feixt er. „Du bist mir also gefolgt. Hat sie dich auf mich angesetzt?“ Er verdreht die Augen in Richtung Treppe draußen. „Bist du jetzt mein neuer Wachhund? Hast dich in mich verknallt, was? Ging ja schnell. Aber keine Sorge, du kommst drüber weg. So wie alle anderen.“ Der Ausdruck in seinem Gesicht ist hässlich, selbstironisch.
    Ich halte seinem Blick stand. „Ist doch egal, wie ich dort hingekommen bin. Aber die Kirche ist viel zu offensichtlich. Niemand kann ein Mädchen wie Lauren in der Presbyterianer-Kirche von Paradise verstecken, ohne dass es auffliegt. Noch dazu, wenn sie so eine Art lebende Trophäe ist. Man muss sich nur mal vorstellen, wie viele Leute da in einer Woche ein- und ausgehen, in der Kirche, der Halle, in den Pausenräumen und im Nebengebäude, wo du heute herumgeschnüffelt hast.“
    Ryans Augen starren einen Augenblick ins Leere, bevor er sie wieder auf mich richtet.
    „Irgendjemand würde was hören, was sehen“, sage ich. „Das Haus oder der Raum, die du suchst, sind garantiert nicht auf dem Kirchengelände.“
    Ryan ist so tief in Gedanken, dass er gar nicht mitkriegt, was ich sage. Er sucht nicht nach einer Leiche, ich weiß es, obwohl ich nicht sagen kann, woher. Keine Ahnung, wie mir dieses Wissen zufliegt. Er sucht nach einer Art Lagerraum, in dem ein Mädchen gefangen gehalten wird. Fast hätte ich zu ihm gesagt: Ich habe sie auch gehört. Sie hat geatmet. Es war dunkel. Und das ganze Unglück hat irgendwie damit zu tun, dass sie singt wie ein Engel.
    „Aber ich höre Kirchenmusik“, beharrt Ryan leise und jetzt schaut er an mir vorbei. „Hymnen, Fetzen einer Predigt. Es muss die Kirche sein. Die Presbyterianer-Kirche, die einzige in der Stadt. Komischerweise“, fügt er hinzu, obwohl seine Stimme alles andere als belustigt klingt, „sind die Leute von Paradise keine großen

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