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Gefangen

Gefangen

Titel: Gefangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Lim
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Kirchgänger. Es stimmt nicht, was alle sagen oder zumindest denken, sogar meine Eltern. Lauren ist nicht tot. Sie lebt und sie muss ganz in der Nähe sein. So nahe, dass ich manchmal ihre Träume und Gedanken auffangen kan n – und was für grausige Gedanken. Stoff für Albträume, Carmen.“
    Zum ersten Mal sagt er meinen Namen, und für einen Moment bin ich mir nicht sicher, mit wem er redet. Dann erinnere ich mich, in wessen Körper ich stecke, und schüttle den Kopf. „Das Pfarrhaus wäre der bessere Tipp“, sage ich leise.
    Ryan starrt mich mit leeren Augen an; sein Blick ist so angestrengt nach innen gerichtet, dass er nicht fragt, woher ich so genau weiß, dass die Wohnräume des Pfarrers außerhalb des Kirchengeländes liegen. Aber ich habe den Ort deutlich gesehen, als Ryan heute dort war, wenn auch nur in bruchstückhaften Bildern. Und da war kein Haus.
    „Die Privatwohnung des Pfarrers“, fahre ich fort, als seine dunklen Augen endlich wieder in meine blicken, „muss irgendwo in der Nähe der Kirche sein. Und ins Pfarrhaus kommen sicher weniger Leute, dort muss man nicht so viele neugierige Blicke fürchten. Trotzdem liegt es nahe genug bei der Kirche, dass du das Singen und die Stimme des Pfarrers hören kannst.“
    Ich sage kein Wort davon, dass ich es auch gehört habe, als ich seine Haut berührte. Kräftige Stimmen, die evangelische Kirchenlieder singen. Eine Orgel. Dumpfes Poltern von Bibeln und Gesangbüchern. Aber das Geräusch war viel zu fern, zu schwach, zu gedämpft. Ich habe auch Streifen hellen Sonnenlichts auf einer Treppenflucht gesehen, blendende Helligkeit. Eine Tür. Zwei. Noch mehr Treppen. Einen Raum, der in einen anderen überzugehen schien. Eine tickende Uhr. Die Geräusche der Autos, die nach dem Gottesdienst vom nahe gelegenen Parkplatz fuhren, Hupen. Alltägliche Dinge. Aber dann nähert sich das Grauen. Ein Grauen, das mit dem Licht kommt. Das Licht bringt Schmerz und Schande, die Sehnsucht nach dem Tod. Ich war sicher, keine Ahnung weshalb, dass Lauren die Dunkelheit erträglicher fand als das Licht.
    Es war nur ein flüchtiger Eindruck, für Ryan wahrscheinlich nicht von seinen eigenen Albträumen zu unterscheiden. Aber ich habe diese Geräusche gehört, so wie ich oft zu viel auf einmal wahrnehme. Ich weiß, dass er Recht hat. Lauren lebt, und er hat noch immer ein e – wenn auch nur schwach e – Verbindung zu ihr. Und er glaubt, dass sie in dieser Kirche ist. Das ist zumindest ein Anhaltspunkt für weitere Nachforschungen. Und für mich eine gute Möglichkeit, mich mit etwas zu beschäftigen, was nichts mit mir selbst zu tun hat. Selbstmitleid ist auf Dauer zermürbend.
    Hauptsache, du hast einen Vorwand, um öfter mit Ryan zusammen zu sein, stichelt eine leise Stimme in mir. Gib’s nur zu!
    „Heute Nacht“, sage ich energisch und schicke meine innere Stimme zur Hölle. „Wir gehen heute Nacht noch mal hin, wenn alle schlafen, und nehmen das Pfarrhaus unter die Lupe.“
    Ryan macht Anstalten zu protestieren, aber dann lässt er die Schultern sinken. „Ich versteh nicht, warum du mir glaubst. Und warum du mir helfen willst. Wir kennen uns doch gar nicht.“
    Ich dich schon, denke ich. Du bist mir so vertraut, dass ich ein Ziehen in meiner Seele spüre.
    „Sie war Sopran, so wie ich“, sage ich. „Sie war Sängerin. Normalerweise wäre sie jetzt bei un s …“
    Mehr brauche ich nicht zu sagen, denn Ryans Gesicht wird hart, er schließt die Augen und schluckt krampfhaft. Vielleicht versteht er mehr und erinnert sich an viel mehr von jener Schreckensnacht, als ich ihm zutraue.
    Wir machen aus, dass wir uns unten an der Haustür treffen, sobald seine Eltern schlafen gegangen sind.
    Ich gehe durch den Flur zu Laurens Zimmer zurück, streife Carmens Kleider ab wie eine tote Haut, dann stelle ich mich mit gesenktem Kopf unter den Duschstrahl. Für eine Weile muss ich nicht denken, nicht handel n – nur fühlen.
    Als ich aus der Dusche komme, wartet eine Aufgabe auf mich. Ich muss noch etwas für Carmen tun. Es ist schließlich ihr Auftritt. Und ich verderbe alles. Sie soll wissen, dass ich mich für sie einsetze. Außerdem muss ich herausfinden, wo meine Grenzen sind, ob ich überhaupt Grenzen habe.
    In ein blütenweißes Handtuch gehüllt, nehme ich eine rissige CD-Hülle von einem Stapel mit Carmens Sachen und schiebe sie in Laurens Anlage.
    Die Musik lässt mich erschaudern, obwohl ich nie krank bin und niemals Kälte spüre.

Kapitel 8

    Es ist nach

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