Gefangen
irgendwo im Meer verliert. Die Highschool, vor der wir halten, besteht aus niedrigen, kastenförmigen Gebäuden und Sturmzäunen, sie alle übersät mit tausendmal neu übertünchten Graffiti. Die Schule liegt in den kahlen Randbezirken des Ortes und gibt sich gar nicht erst den Anschein, als wollte sie sich in die Landschaft einfügen.
Der Bus hält ruckelnd an, die vorderen Türen öffnen sich zischend, und in die Mädchen um mich herum kommt Bewegung wie bei einer Tierherde, die sich im Schlaf regt.
Ich habe eine gute Stunde lang geschwiegen aus Angst, dass ich nicht die richtigen Worte finde. Als jemand zum zweiten Mal ungeduldig „Carmen Zappacosta“ faucht, kann mich wieder nur das abfällige Schnauben der Blonden dazu bringen, Kopf und Hand zu heben. Dann lasse ich die Hand wieder fallen und sie plumpst schwer in meinen Schoß wie totes Fleisch.
Ich kneife die Augen zusammen. Die eisgraue Lehrerin mit dem grimmigen Gesicht hat mich angesprochen. Sie schüttelt den Kopf, bevor sie mürrisch fortfährt: „Die Hausregeln sind klar: nicht trinken, nicht rauchen, nicht mit jemandem aus der Gastfamilie schlafen. Wir haben schon so ziemlich alles erlebt im Lauf dieses Austauschprogramms: stehlen, abhauen, Einlieferung ins Krankenhaus, unbefleckte Empfängnis und so fort. Wer gegen die Regeln verstößt, wird gnadenlos abgestraft. Und vergesst nicht, warum ihr hier seid: Ihr vertretet die St.-Joseph’s-Mädchenschule. Ihr habt hier zu singen und sonst nichts. Ist das klar?“
Der Bus ist ein Meer von genervt verdrehten Augen jeglicher Farbe. Alle um mich herum stehen schnatternd auf und packen ihre Sachen. Ich warte ab, welches Gepäckstück übrig bleibt, und nehme es. Dann stolpere ich hinter den anderen aus dem Bus, der ins Schlingern gerät wie ein Segelboot.
Auf dem Weg nach draußen fange ich den Blick des Fahrers auf: Augen wie brennende Löcher unter seinem korrekt gezogenen Scheitel. In diesem Moment begreift er, dass ich Bescheid weiß, denn er senkt den Kopf und würdigt mich keines Blickes mehr, obwohl ich ihn lange anstarre. Sieht das denn niemand außer mir? Sieht niemand dieses Unglück, das nur ihm gehört und ihn einhüllt wie Nebel?
„Kannst mich ja anrufen, wenn du dich wieder eingekriegt hast“, zischt die frostige Blonde mir zu, als ich unter dem Gewicht von Carmens vollgestopfter Sporttasche hinter ihr hinauswanke und fast mit meinem neuen Gastvater zusammenstoße. Der Mann ist dunkelhaarig, kantiges Gesicht, ungewöhnlich groß. Er trägt eine Kakihose, ein Freizeithemd und einen dunklen Blazer. Sieht nett aus. Wie lautet noch mal der passende Ausdruck dafür? Attraktiv. Gut aussehend.
Ich weiß, dass er der Richtige ist, weil er als Einziger noch dasteht und wartet, als ich aus dem Bus steige. Alle anderen Mädchen ziehen schon ihre Jacken aus, lassen ihr Haar herunter, riskieren einen Blick auf ihren Gastbruder und checken die Lage.
„Das ist also Paradise“, höre ich die Blonde sagen, die sofort in den Flirtmodus umschaltet, als sie von ihrer Gastfamilie in Empfang genommen wird.
Wahrscheinlich müsste ich das auch, um wirklich überzeugend zu sein, aber ich kann nicht flirten. An mir ist nichts Neckisches. Allein dass ich aufrecht stehe, ist ein Sieg für mich. Ich stelle fest, dass ich leichte Schlagseite habe, und korrigiere unauffällig meine Haltung.
Der Mann, dem Carmen anvertraut wird, merkt nichts davon. Er behält sein freundliches Lächeln, seinen gleichmäßigen, geduldigen Gesichtsausdruck. Und er scheint auch nicht die unerklärliche Distanz zwischen sich selbst und den anderen Gasteltern auf dem Parkplatz wahrzunehmen. Blicke schnellen zu ihm herum, es wird gerede t – Tratsch, Tratsch, Tratsch, hämisches Gelächter, Missbilligun g –, aber er merkt es nicht oder tut wenigstens so. Stattdessen nimmt er Carmens Tasche aus meinen tauben Fingern und wirft sie sich mühelos über die Schulter.
Ich folge ihm benommen, setze einfach einen Fuß vor den anderen. Und jeder Schritt, den ich auf dem Erdboden mache, prägt sich meinen geborgten Knochen ein.
Kapitel 3
Nachdem er Carmens Tasche im Kofferraum seines Wagens verstaut hat, öffnet der hochgewachsene Fremde die Beifahrertür. Er wartet höflich, bis ich eingestiegen bin, bevor er sich ans Steuer setzt. Dann hält er mir seine Bärenpranke hin und sagt freundlich: „Hallo, ich bin Stewart Daley“, und es dauert einen Augenblick, bis ich mich erinnere, dass ich jetzt das Gleiche tun muss. Ich muss die
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