Gefangen
Fähigkeit, andere nach ihrem Willen zu lenken.
„Kannst du dich bitte neben Spencer stellen und seinen Part mitsingen?“, scherzt er leichthin. „Ich weiß, dass du dieser Herausforderung gewachsen bist. Und du hie r – Rachel heißt du, oder? Du springst für Carmen ein. Tiffany lassen wir, wo sie ist. Wozu an etwas herumbasteln, was ohnehin in Ordnung ist? Auf diese Weise müsste es ganz gut klappen.“
Ich nicke und frage mich nicht zum ersten Mal, was dieser Mann in dem tristen Provinznest hier zu suchen hat, warum er sich mit so mittelmäßigen Talenten herumschlagen muss.
Tiffanys strahlendes Lächeln erlischt, während Rache l – bisher immer die zweite Garnitur, nie der Sta r – begeistert aufspringt. Jetzt stehen acht von uns mitten in der über den Saal verteilten, sitzenden Schülerherde. Diese Anordnung rührt an etwas in meiner Erinnerung, ohne dass ich es benennen kann.
Paul Stenborg hat Recht: Ich brauche meine Partitur nicht mehr. Allerdings frage ich mich, wie er das in dem allgemeinen Chaos bemerkt haben will. Was würde er erst sagen, wenn er wüsste, dass ich inzwischen die gesamte Werkpartitur mit allen Chören, allen Solostimmen von Alt bis Bariton, von den Pauken bis zu den Streichern auswendig kann. Sie liegt in meinem Kopf bereit, jederzeit abrufbar, jede Phrase, jeder einzelne Takt und jede Zweiunddreißigstelnote.
Die Bässe zwischen mir und Spencer teilen sich wie das Rote Meer, als ich neben ihn trete. Der Arme ist so aufgelöst und verlegen, dass er mir nicht ins Gesicht sehen kann, aber ich bin genau da, wo ich sein will. Auf einmal will ich das Singen ganz schnell hinter mich bringen, damit ich ihn ein paar Minuten für mich allein haben kann. Es ist bald fünf und wir sind schon fast über der Zeit. Ich muss unbedingt zum Zug kommen, bevor der Typ wieder in seinem Loch verschwindet.
„Gut so, Mädchen“, sagt Paul Stenborg anerkennend. „Hilf dem armen Kerl auf die Sprünge. Sei die barmherzige Samariterin.“ Er nickt Gerard Masson zu, der geduldig an der Musikanlage steht. „Gerald, wenn Sie jetzt den Einsatz für die Altstimmen geben, kann es meinetwegen losgehen.“
Der Tenorpart, den ich jetzt in Angriff nehm e – Spencer setzt einen Sekundenbruchteil nach mir ei n –, ist viel tiefer, als Carmen normalerweise singen würde. Obwohl die Noten mir keinerlei Probleme bereiten, muss ich den Knoten in ihrer Kehle durchstoßen, ihre tief sitzende Angst, sich in der Öffentlichkeit zu produzieren. Eine Sekunde lang tobt ein unsichtbarer Machtkampf zwischen uns. Aber ich gewinne immer, und so geht es weiter, unsere vereinten Stimmen erklingen rein und erhaben wie sonst auch, einzigartig und unerreicht, und fegen das misstönende Chaos ringsum weg. Jeder kann es hören und das gibt Anlass zu Tratsch, Tratsch und nochmals Tratsch.
Mehrmals fange ich bewundernde Blicke von Paul Stenborg auf und Gerard Masson vorne am Podium strahlt mich die ganze Zeit an. Eine Welle von Begeisterung bricht über Carmen herein, die ohne mich schon längst die Flucht ergriffen hätte. Carmen will zwar Sängerin werden, mehr als alles andere auf der Welt, aber sie kann es kaum ertragen, wenn die Leute sie ansehen. Das weiß ich aus ihrem Tagebuch.
Ich habe auch meine Probleme, klar, aber mir macht es nichts aus, im Mittelpunkt zu stehen. Du bist, was du bist, sage ich mir, und damit musst du klarkommen.
Ein letztes Mal pickt sich Paul Stenborg den Jungen neben mir heraus, um ihm den Rest zu geben.
„Spencer, Spencer, Spencer!“, brüllt er unbeherrscht, als eine Passage mit Orchesterbegleitung beginnt. „Am besten überspringst du den nächsten Abschnitt und überlässt das Singen den Leuten, die echtes Talent haben.“
Das Stimmengewirr verstummt und alle Blicke richten sich auf Spencer. Gebannte Erwartung liegt in der Luft: Jetzt wollen sie Blut sehen.
Spencer lässt zerknirscht den Kopf hängen und ich spüre die Hitze, die von seinem Körper ausgeht.
Aber Gerard Masson ist geduldiger als sein Kollege von Port Marie; er lässt sich nicht abschrecken, sondern zwingt uns mit seiner unverwüstlichen guten Laune, denselben Abschnitt immer wieder in Angriff zu nehmen, bis Spencer kein Problem mehr mit der Tonhöhe und den Tempi hat. Eine Runde halbherziger Applaus ertönt, als M r Masson das Band bei Phrase dreiundzwanzig endlich anhält, nachdem der gesamte Chor und jeder einzelne Solist den Abschnitt mehrmals fehlerlos hinter sich gebracht haben.
„Fantastisch! Das wäre
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