Gefangen
persönlich nimmt. „Willst du die offizielle Version? Er hatte Zoff mit ein paar versnobten Müttern, die ihre Töchter unbedingt in diese Schule reindrücken wollten. Zu viel Stress, zu viel Verwaltungskram und dann noch die betuchten Schüler-Mamis, die ihn dauernd angeflirtet haben. Angeblich zieht er das einfache Leben hier vor.“
Ich glaube kein Wort davon und frage neugierig: „Und die inoffizielle Version?“
„Er musste gehen, weil ihm eine verknallte Schülerin das Leben zur Hölle machte. Angeblich hat sie ihn gnadenlos verfolgt wie eine richtige Stalkerin. Obwohl er ein Kontaktverbot erwirkt hat, hat ihn diese Irre mit schmutzigen SMS bombardiert und ihn einmal sogar tätlich angegriffen. Sie hat ihm in seinem Schlafzimmer aufgelauert, stell dir das mal vor! Ist durchs Fenster reingeklettert. Er musste sie von der Polizei abführen lassen. Trotzdem hat sie keine Ruhe gegeben. Da hat er gekündigt und ist aus der Stadt geflüchtet, so weit weg von ihr wie nur möglich. In den verknallen sich doch alle, nicht nur die Mädchen. Obwohl ich nicht verstehe, was so attraktiv an ihm sein soll.“ Spencer wirft mir ein schiefes Lächeln über den Rand seines Bechers zu.
So faszinierend Paul Stenborg auch sein ma g – wie eine exotische Blüte in der verdorrten Wildnis von Paradis e –, ich bin hier, um Spencer wegen Lauren auf die Probe zu stellen. Ich muss herausfinden, was er weiß, aber vorsichtig, damit ich ihn nicht vergraule. Dieser Spencer ist ein ziemlich schreckhafter Typ.
„He, weißt du eigentlich, wo ich wohne?“, frage ich so beiläufig wie möglich. Ich lasse meinen Kaffee im Becher hin und her schwappen, als wollte ich meine Zukunft daraus lesen.
Spencer hebt den Kopf. „Nein, bei wem?“
„Bei den Daleys“, murmle ich und werfe ihm einen verstohlenen Blick zu.
Spencer wird sichtlich blass. Er nimmt einen großen Schluck von dem immer noch brühheißen Gesöff, saugt leicht die Luft ein und wischt sich mit dem Handrücken erst über die Mundwinkel, dann über seine tränenden Augen.
„Ich soll dir Grüße von Ryan ausrichten.“
Das ist gewagt. Ich habe keine Ahnung, ob Ryan je was von Spencer gehört hat und umgekehrt.
„Danke, grüß ihn von mir zurück“, sagt Spencer langsam, den Blick auf seinen Kaffee geheftet. „Das ist eine tolle Familie. Die halten zusammen wie Pech und Schwefel. Sie sind eine richtige Bilderbuchfamilie, wie jeder sie gern hätte. Das heißt, sie waren mal eine“, verbessert er sich schnell. „Ich sehe sie nur noch selten, sei t … na ja, du weiß t …“
Wir sitzen schweigend da. Spencer fingert an seinem Uhrband herum, völlig niedergeschmettert, dann rührt er wieder in seinem Kaffee und schiebt die Brille hoch. Er wirkt so angespannt und strahlt so viel Verzweiflung aus, dass man meinen könnte, er hätte Lauren selbst umgebracht. Vielleicht bin ich da auf eine Spur gestoßen.
„Die Daleys reden nicht viel über Lauren“, fahre ich ruhig fort. „Ich weiß bloß, dass sie ihr Zimmer genauso gelassen haben, wie es war, als sie verschwunden ist. Da kleben noch eine Menge Fotos an ihrer Kommode, auch welche von dir und Lauren. Ryan meint, sie hätte dich sehr gern gehabt.“
Auch so ein Schuss ins Blaue, aber als er mich kurz anschaut, weiß ich sofort, dass ich richtigliege. Dann starrt er wieder in seinen Kaffee, schiebt den Becher hin und her und wischt sich verstohlen ein nicht vorhandenes Staubkörnchen aus dem Auge. Ich sehe schnell weg und tue so, als hätte ich den feuchten Schimmer darin nicht gesehen.
„Sie war wirklich nett“, murmelt er und spielt wieder mit seiner Uhr. „Sie war geduldig und lieb, obwohl sie es gar nicht nötig hatte. Ich hatte sie sehr gern. Wir haben uns bei der Vorbereitung zum letzten großen Austauschkonzert kennengelernt und waren viel zusammen. Hat sich so ergeben, weil ich einer der wenigen passablen Tenöre von Port Marie bin. Das war alles, kurz bevor si e … verschwand.“ Er schluckt schwer, in seiner Stimme liegt noch viel unbewältigter Schmerz. „In dem Jahr war St . Joseph’s nicht dabei, deswegen hast du so wenig über Laurens Entführung gehört. Hat großen Wirbel verursacht in der Gegend. Wusstest du, dass ich einer der Letzten war, der sie lebend gesehen hat?“ Spencer schluckt erneut, wischt einen nicht vorhandenen Fleck von seiner Brille und schiebt sie dann so heftig nach oben, dass die Nasenaufsätze gegen die Augenwinkel gedrückt werden. Jetzt tränen seine Augen noch
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