Gefangen
damit alles richtig sitzt, was wir heute gemacht haben. Wir können doch sicher einen von den Proberäumen hier nehmen. Und meine Gastfamilie kann ihn dann später nach Hause fahren.“
Paul Stenborgs Gesicht erstarrt einen Augenblick wie unter Schock, dann setzt er sofort wieder sein spöttisches Grinsen auf. „Wie edel von dir, meine Liebe! Nur wird es leider nicht viel nütze n – größere Geister als du haben sich an ihm schon die Zähne ausgebissen. Aber nur zu, versuch’s ruhig! Mein Dank ist dir gewiss. Und ich bin natürlich gespannt, wie du vorankomms t …“
Als Spencer und ich zusammen die Halle verlassen, blicke ich flüchtig über die Schulter zurück. Paul steht nun mit dem Rücken zu uns in einem Streifen Sonnenlicht, eine Szene wie aus einem Vermeer-Gemälde. Plötzlich zerstört er die Illusion von Stille und Unbewegtheit, indem er sich umdreht und mir direkt in die Augen sieht. Jeder andere würde rot werden, wenn er auf diese Weise ertappt wird. Ich nicht, denn ich liebe Schönheit. Von jeher.
Mein Blick nötigt dem Mann einen Ausdruck vo n … was ab? Von Bewunderung vielleicht? Schwer zu sagen, denn er schaut weg, und einen Augenblick ist es, als verfinsterte sich der Raum. Als wäre die Sonne hinter einer Wolke verschwunden.
Kapitel 16
„Mich wundert nur, dass er dich noch nicht auf einen Kaffee eingeladen hat“, sagt Spencer düster, als wir den In-Treff von Paradise ansteuern. Wir müssen gegen einen Wind ankämpfen, der die schmächtige Carmen unter normalen Umständen glatt umreißen würde.
„Wieso?“, frage ich neugierig, weil ich dieses Gerücht jetzt schon zum zweiten Mal höre. „Macht er das immer?“
Die Straßen übersät von gebrochenen Herzen, rezitiere ich in Gedanken.
„Ja, klar“, brummt Spencer widerwillig, während wir durch die Schwingtür einer heruntergekommenen Kneipe namens Decades Café stolpern, die wie ein Strandcafé aufgemacht ist. Der Ort ist verlassen, abgesehen von einer einsamen, fettleibigen Bedienung, die hinter der Theke hockt und gebannt ein Skandalblättchen verschlingt. Die Frau blickt kaum auf, als wir hereinkommen.
„Er redet immer von ‚wahrer Begabung‘ und wie unglaublich ‚selten‘ und ‚kostbar‘ sie sei. Dass man Talent hegen und pflegen müsse wie eine Blume.“ Spencers Stimme ist gallenbitter, als er Stenborg zitiert. „Aber ich kann da natürlich nicht mitreden, weil er mich noch nie auf einen Kaffee eingeladen hat, und du kannst Gift drauf nehmen, dass er das auch nie tun wird. Erstens bin ich nicht sein Typ, und zweitens muss ich sowieso nur als Lückenbüßer für die nicht vorhandenen ‚wahren‘ Talente herhalten. Das reibt er mir bei jeder Gelegenheit unter die Nase.“
Wir quetschen uns durch die Schwingtür in ein leeres Abteil ganz hinten, ich mit dem Gesicht zur Tür und dem Rücken zur Wand. Ich weiß nicht, warum, aber Vorsicht ist mir zur zweiten Natur geworden. Die Kellnerin knallt ihren Lesestoff auf die Theke, um endlich unsere Bestellung aufzunehmen. Ich nehme dasselbe wie Spencer, weil ich mich nicht daran erinnern kann, wie ich meinen Kaffee trinke oder ob ich Kaffee überhaupt mag. Ich weiß nur, dass Kaffee ein beliebtes Getränk ist, das ich in einigen meiner vielen Leben schon probiert haben muss. Die Frau grunzt etwas Unverständliches, dann stapft sie wieder davon.
„Weißt du, dass er an einer Eliteschule unterrichtet hat, bevor er hierherkam?“, fährt Spencer fort. Er lebt sogleich auf, als unser Kaffee kommt: zwei dampfende Becher mit öligem, schwarzem Zeug. Spenser rührt drei Löffel Zucker hinein. Ich folge seinem Beispiel, mit dem Ergebnis, dass ich mich beim ersten Schluck fast übergeben muss. Der Kaffee schmeckt scheußlich, wie eine Mischung aus WC-Reiniger und pappsüßem Sirup. Spencer atmet sichtlich zufrieden den Dampf ein und umfasst den Becher mit beiden Händen.
„Im Ernst?“, sage ich und rühre weiter im Becher, um die Hände zu beschäftigen. „Woher hätte ich das wissen sollen?“
„Wer denn sonst, wenn nicht du?“, erwidert er überrascht. „Du bist doch eine von diesen ‚echten Begabungen‘, von denen er immer redet. Er hat richtig gute Connections. Jedenfalls hört man das immer.“
„Und was macht er dann hier?“, frage ich und würde mir im selben Moment am liebsten auf die Zunge beißen. Widerwillig nippe ich an dem Kaffee. Taktgefühl war leider noch nie meine Stärke.
Spencer lacht, um mir zu zeigen, dass er meine abfällige Bemerkung nicht
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