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Gefangen

Gefangen

Titel: Gefangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Lim
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Zähneblecken gleicht, und Tiffanys Grinsen erlischt, als sie wieder nach vorne schaut.
    Sofort lasse ich Carmens Züge wieder erschlaffen und hoffe im Stillen, dass sie Tiffany auch dann noch die Zähne zeigen wird, wenn ich nicht mehr da bi n – wenngleich ich da meine Zweifel habe.
    Na warte, du Miststück, du wirst dein blaues Wunder erleben!, denke ich und hole tief Luft.
    Der Junge mit dem Blazer schiebt alle paar Sekunden seine Brille hoch und fummelt an seinem Uhrenarmband herum, obwohl es absolut nichts gibt, was zurechtgerückt werden müsste. Ein nervöser Typ also, wie Carmen. Die beiden anderen Solisten sind auch nicht viel besse r – zwei nervtötende Witzfiguren, die unentwegt nicken, schlucken und mit den Füßen scharren. Alle drei sind vom Feind umzingelt und wissen genau, dass es kein Pardon für sie gibt.
    Delia und Marisol, die zweite St.-Joseph’s-Altstimme, nehmen ihre Plätze im Sopranbereich ein, aufgeregt wie zwei Vollblut-Rennpferde an der Startmaschine. Das Orchester erwacht wieder zum Leben, und der ganze Raum stürzt sich in Teil eins mit der Begeisterung einer kranken Katze.
    Als wir zu Phrase sieben kommen und ich mein atemberaubendes Solo beginne ohne einen Funken von Carmens üblicher Befangenheit, stelle ich mich so, dass ich den Typ von Port Marie sehen kann. Laurens mysteriöser Freund entpuppt sich als der zittrige Tenor, der seinen Einsatz nach mir und vor Tiffany, Delia und Marisol hat.
    Alle Solisten, die über mehrere Partiturseiten keine Noten zu singen habe n – mit Ausnahme von Tiffany und mi r –, setzen im richtigen Moment bei Phrase einundzwanzig ein. Doch da klatscht Paul Stenborg auf einmal laut und mit unverhohlener Missbilligung in die Hände. Der ganze Zirkus gerät ins Stocken und verstummt, aber seltsamerweise protestiert keiner der anderen Chorleiter gegen diese Eigenmächtigkeit. Selbst Miss Fellows macht ein aufmerksames, fast ehrfürchtiges Gesicht, wie ich verwundert registriere.
    „Infirma nostri corporis“ , singt Paul mit hallender Stimme. „Virtute firmans perpeti.“ Die lateinischen Sätze kommen ihm so mühelos über die Lippen, als wäre auch er mit dieser Sprache aufgewachsen, so wie ich.
    „Und Blablabla“, kichert der Bass neben mir, den das alles völlig kaltlässt, weil er keine Ahnung hat. Und zwar nicht die geringste.
    Pauls helle Augen richten sich mit der Schärfe eines Laserstrahls auf meinen Nachbarn, der seinen nächsten dummen Witz schnell in ein Hüsteln verwandelt.
    „Wie ihr gehört habt, flehen wir zu Gott, dass er unserem schwachen Fleisch ewige Stärke verleihen möge“, fährt Paul mit beißender Schärfe fort. „Aber deshalb müsst ihr noch lange nicht so schwach sein. Das gilt ganz besonders für dich, Spencer.“ Tödlicher Spott liegt in seiner Stimme, als er den zittrigen Tenor mit seinem Skalpellblick herauspickt. Der arme Kerl wird knallrot. „Das ist eine Beleidigung.“
    Zumindest kann ich diesem Gesicht jetzt einen Namen geben: Spencer.
    Spencer, der immer noch zum Fürchten rot ist, schiebt zum tausendsten Mal mit nervösen Fingern seine Brille hoch, als könnte ihn diese vertraute Geste vor weiterem Unheil bewahren. Unterdrücktes Gelächter und Getuschel verbreitet sich im ganzen Saal.
    „Mehr Saft, Spencer!“, fügt Paul Stenborg mit gefährlich leiser Stimme hinzu. „Wenn ich bitten darf.“
    Spencer nickt kläglich. Ein paar von den Typen in seiner Nähe brüllen vor Lachen.
    „Gut, dann können wir ja, M r Music“, sagt Paul mit eisigem Spott und Gerard Masson wirft gehorsam die Anlage wieder an.
    Tiffany und ich legen erneut einen glänzenden Kurzauftritt bei Phrase zwanzig hin. Dann fällt das Ganze wieder auseinande r – sobald Delia, Marisol und die drei Jungen merken, dass sie bei Phrase einundzwanzig allein sind, ohne die beiden Zugpferde, die die Attacke anführen.
    „Carmen?“, ruft Paul Stenborg plötzlich mit seiner elektrisierenden Stimme und richtet seinen strahlenden Blick auf mich, als wären wir allein im Raum. Alles verharrt, hält den Atem an. Einen Moment lang kann ich meinen Blick nicht abwenden.
    „Wie ich sehe, hast du die ganze Partitur auswendig gelernt, da du kein einziges Mal auf deine Noten schauen musstest“, fährt er in warmem Ton fort. Etwas wie ein Lächeln, wie Sonnenschein, liegt in seiner klangvollen Stimme. Und plötzlich wird mir bewusst, dass er in dieser Hinsicht ein bisschen wie Luc ist, denn beide haben dieses Strahlende, Unwiderstehliche. Die

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