Gefangene deiner Dunkelheit
Manolitos Stimme war nur noch ein Flüstern, und er drückte MaryAnns Hand noch fester an sein Herz, als könnte er so den Schmerz dort lindern.
»Warum hat er das getan?«
»Wir glaubten, dass sein ältester Sohn, den wir nie erwähnen, schon Anzeichen von Krankheit zeigte. Die Dubrinsky-Linie verfügt über die Fähigkeit zu großer Macht, doch es bedarf einer noch viel weiter reichenden Macht, um sie zu steuern. Wahnsinn regiert, wenn keine Disziplin vorhanden ist. Vlads ältester Sohn hatte schon ein Auge auf Ivory geworfen, obwohl er nicht ihr Gefährte war. Wir hätten ihn umgebracht, wenn er sie angerührt hätte. Eine spürbare Spannung herrschte, wann immer er in unser Dorf zurückkehrte. Ich selbst habe zwei Mal mein Messer gezogen, als er sie in der Nähe des Marktes belästigt hatte. Es ist einem Karpati-aner strengstens verboten, eine Frau anzurühren, die nicht seine Gefährtin ist, aber es stand außer Frage, dass er genau das vorhatte, sobald er Gelegenheit dazu bekam.«
»Ich dachte, karpatianische Männer sähen keine anderen Frauen als ihre eigenen Gefährtinnen an.«
»Manche tun es, wenn sie jung sind, und andere sind krank und verdorben von einem zwanghaften Bedürfnis nach Macht über das andere Geschlecht. Es ist eine Art von Wahnsinn, der oft die Aller-mächtigsten befällt. Auch unsere Spezies hat ihre Anomalien, Mary-Ann.«
»Warum hat ihn keiner aufgehalten?«
»Ich denke, dass viele wohl nicht glauben wollten, dass der Sohn eines Prinzen diese Krankheit in sich trug, aber wir wussten, dass es so war. Zacarias, mein ältester Bruder, und Ruslan, der älteste Mali-nov, gingen zu Vlad und unterrichten ihn über die Gefahr, in der sich Ivory befand. Der Prinz schickte seinen Sohn fort, und eine Zeit lang herrschte Frieden. Doch dann kam Vlads Sohn zurück, und als Ivory um Erlaubnis bat, die Magierschule zu besuchen, war das für Vlad die einfachste Lösung des Problems. Er dachte, ohne Ivory in der Nähe würde sich sein Sohn wieder beruhigen.«
Manolito fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »In Wahrheit wusste er es natürlich besser. Vlad hätte sich mit der Krankheit seines Sohnes abfinden und den Befehl erteilen müssen, ihn zu töten. Ohne Ivory in der Nähe hatte er jedoch mehr Zeit, sich mit der Sache zu befassen und vielleicht noch eine andere Lösung zu finden.«
»Und darum erlaubte er ihr zu gehen.«
»Ja. Er schickte sie fort, ohne ihr jemanden mitzugeben, um für ihre Sicherheit zu sorgen. Er ließ uns nicht einmal benachrichtigen, weil er wusste, dass wir sofort zurückkehren würden.«
MaryAnn legte die Arme um Manolito und zog ihn an sich. »Und was geschah?«
Für einen Moment legte er den Kopf an ihre Schulter und drückte sein Gesicht an ihre warme Haut. Ihm war kalt, und es wollte ihm einfach nicht gelingen, die Kälte abzuschütteln. Mit einem resignierten kleinen Seufzer zwang er sich, den Kopf zu heben und MaryAnn in die Augen zu sehen. »Du bist die Gefährtin meines Lebens. Es war Destiny, die bewirkte, was zwischen uns ist. Ich bin vieles, MaryAnn, und ich kenne mich sehr gut. Ich werde dich nicht freigeben. Du wirst lernen müssen, mit meinen Sünden zu leben, und ich schulde dir die Wahrheit über meine schlimmsten.«
Sie hielt ihren Blick auf ihn gerichtet und sah mehr Trauer als Gewissensqual in seinen schwarzen Augen. Seine Liebe zu Ivory war stark gewesen, wahrscheinlich nicht weniger stark als die ihrer wahren Brüder. Bei dem Frauenmangel, der in ihrer Spezies herrschte, hatten so starke, fürsorgliche Männer es ganz gewiss für ihre heilige Pflicht gehalten, dieses junge Mädchen auf Händen zu tragen und vor allem Unheil zu beschützen. Mit ihrer Mission zu scheitern, musste für sie unerträglich gewesen sein.
»Als wir erfuhren, dass ein Vampir sie angegriffen und getötet hatte, waren wir alle völlig außer uns. Und wir hatten eine mörderische Wut. Ruslan und Zacarias waren zum ersten Mal nicht mehr die besonnenen, kühlen Köpfe, die sie stets gewesen waren, sondern wollten den Prinzen umbringen. Wir alle wollten das. Wir gaben ihm die Schuld daran, durch seine Widerrufung unserer Anordnungen Ivorys Tod herbeigeführt zu haben.« Manolito schüttelte den Kopf. »Wir konnten nicht einmal ihren Leichnam finden, um wenigstens zu versuchen, sie aus der Schattenwelt zurückzuholen, obwohl jeder Einzelne von uns ihr mit Freuden dorthin gefolgt wäre, um den Versuch zu unternehmen.«
MaryAnns Herz verkrampfte sich. Die Welt der Schatten und
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