Gefangene deiner Dunkelheit
nur darauf warteten, unvorsichtige Besucher anzugreifen, aber sie sah höchstens einmal einen Vogel aufflattern, als sie im Gänsemarsch hintereinander hergingen.
Natürlich hatte sie sich den Waldboden auch als undurchdringliches Dickicht vorgestellt, doch er war offen und leicht begehbar. Bäume erhoben sich überall um sie herum, riesige, glatte Stämme, die bis zu ihren Kronen fast völlig ohne Äste waren. Am Fuß der Bäume stiegen Wurzeln aus der Erde auf, die wie Schlangen über den Boden krochen. Einige Bäume sahen so aus, als würden sie von unzähligen Pfählen gestützt. Überall hingen Rankengewächse, während Lianen die Bäume wie dicke Taue miteinander verbanden und eine verborgene Straße oben in dem Blätterdach erzeugten. Kletterpflanzen wanden sich an den Baumstämmen hinauf und verflochten sich mit Orchideen und Sträuchern, Farnen und dem Moos, das auf den Zweigen wuchs. MaryAnns vorsichtige Schritte führten sie über Laub, Sämlinge, herabgefallene Äste und Baumwurzeln, die sich wie Fangarme in alle Richtungen erstreckten.
Sie hatte Angst. Große Angst. Sie hatte sich nicht mehr so gefürchtet, seit ein Mann bei ihr zu Hause eingebrochen war und sie beinahe getötet hätte. Wäre ihre beste Freundin Destiny jetzt bei ihnen gewesen, hätte MaryAnn ihre Ängste zugegeben, darüber geredet und vielleicht sogar über sich selbst gelacht. Aber sie kannte diese Leute nicht. Außerdem war sie hier absolut nicht in ihrem Element, und nur ihr dringendes Bedürfnis, anderen zu helfen, trieb sie weiter.
Sie hatte ihr Lieblingsoutfit angezogen, um sich ein bisschen Mut zu machen. Ihre bestickte Jacke von Forzieri, kurz und trendy, aus auf alt gemachtem braunem Leder, passte zu ihren Stiefeln und verlieh ihr noch zusätzliches Selbstvertrauen. Die Stickerei auf dem Rücken des Jäckchens war superb, und die Leinenrüschen daran verliehen ihm eine renaissanceähnliche Eleganz. Kombiniert mit ihren Jeans von Seven, die einen breiten, unterhalb ihres Nabels sitzenden Bund hatten und so bequem waren, dass sie sie kaum spürte, und ihrem absolutem Lieblingsshirt von Vera Cris-tina, das vorn mit türkisfarbenen, goldenen und durchsichtigen Perlen bestickt war, hätte sie nicht besser aussehen können. Nun ja ... sofern man nicht ihr Haar mitzählte. Aus purer Verzweiflung hatte sie es zu einem dicken Zopf geflochten. Als Schmuck trug sie heute nur Ohrstecker, weil sie vermutete, dass alles andere sie behindern könnte. Erst als ihr Absatz wieder einmal in der Erde versank, wurde ihr klar, dass sie hoffnungslos überfordert und völlig unpassend gekleidet war. Aber sie drängte ihre Tränen zurück und ging weiter.
Falls Manolito noch lebte, wo war er dann? Warum konnte sie ihn telepathisch nicht mehr erreichen, nachdem ihr schlagartig bewusst geworden war, dass er von einem Jaguar angefallen wurde? Sie hatte versucht, das Raubtier aufzuhalten, sich ihm in den Weg zu stellen, und eine Warnung geschrien, aber keiner hatte sie verstanden. Wie könnte sie den anderen erklären, ohne vollkommen verrückt zu klingen, dass sie für einen Moment dort gewesen war - in dem Wald – und zwischen Manolito und dem sicheren Tod gestanden hatte?
Riordan und Juliette sahen grimmig und besorgt aus, hatten ihr auf ihre furchtsamen Fragen aber keine Antworten gegeben. Sie hatten sie praktisch in den Geländewagen hineingestoßen, Riordan beinahe grob. Er war schon immer einschüchternd gewesen, genau wie seine Brüder, doch eigentlich nie grob, bis jetzt.
Als wüsste Juliette, was sie dachte, trat sie neben sie. »Tut mir leid, MaryAnn. Das ist bestimmt nicht leicht für dich.«
»Es ist nicht mein Ding«, gab MaryAnn zu und wäre am liebsten umgekehrt, um zu dem Jeep zurückzulaufen. Doch sie nahm sich zusammen und ging weiter. »Aber ich kriege das schon auf die Reihe.« Weil sie das immer tat, wenn jemand Hilfe brauchte. Und sie dachte nicht daran, Manolito De La Cruz in einem Dschungel mit angriffslustigen Jaguaren allein zu lassen. Sie konnte kaum noch atmen vor Sorge um den Mann.
Ihre Brust schmerzte, ihr Herz lag schwer wie ein Stein darin, und ihre Augen brannten von nur mühsam unterdrückten Tränen. Sie musste ihn sehen. Ihn hören. Ihn berühren. Es ergab keinen Sinn, aber das war im Moment nebensächlich. Sie musste bei ihm sein, oder sie würde sterben. Obwohl sie sich bemühte, ihr Gesicht von Juliette abgewandt zu halten, war sie sich der besorgten Blicke der Frau bewusst.
»Er lebt noch«, sagte sie
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