Gefangene der Flammen
spürte allerdings auch einen dunklen, bösartigen Fleck, der sich in der Erde ausbreitete und ein Opfer suchte. Aber auch noch etwas anderes war da – etwas Starkes, Tapferes, Unerschrockenes, Fürsorgliches, das ein Teil von ihr war. Abrupt zog Riley sich zurück.
Anscheinend lagen Jubal und Gary gar nicht so falsch mit ihrer Einschätzung der Situation. Was hier vorging, war keine Massenhalluzination, sondern ein sorgfältig inszeniertes Komplott, um ihre Mutter anzugreifen, ihre Reise zu dem Berg zu verlangsamen und zu verhindern, dass Annabel das jahrhundertealte Ritual vollzog. Riley konnte nicht sagen, warum oder was sich in dem Berg befand. Sie konnte nur vermuten, dass dieses Etwas verzweifelt versuchte, herauszukommen und zu überleben, und zu jedem Mittel – einschließlich der Ermordung ihrer Mutter – greifen würde, um das zu erreichen.
Deshalb war Annabel also so im Einklang mit den Pflanzen. Sie spürte sie und war so eng mit ihnen verbunden, als wären sie tatsächlich ein Teil ihrer Familie. Riley dagegen hatte diese Verbindung noch nie zuvor verspürt, doch jetzt kam ihr auf einmal der Gedanke, dass irgendeine Form der Bewusstheit und Macht auf sie übertragen wurde. Allein die Möglichkeit, dass es so sein könnte, bestürzte sie noch mehr. Gab ihre Mutter vielleicht irgendwie im Schlaf ihr Wissen an die Tochter weiter, wie es ihren Erzählungen nach alle Generationen ihrer Vorfahrinnen vor ihrem Tod getan hatten?
»Was macht sie da?«, fragte Jubal neugierig. Aber sein Ton verriet noch etwas anderes als Neugierde. Eine Ahnung?
Riley erschrak. Sie war so fasziniert gewesen von den Unmengen von Pflanzen, dem Vorhandensein solch intensiven Lebens überall um sie herum und dem Gefühl, eine Verwandlung zu erfahren, dass sie fast vergessen hatte, dass es Zeugen für die rituellen Bewegungen gab, die ihre Mutter sonst nur auf dem Berg vollzog. Sowohl Jubal als auch Gary bedachten sie mit viel zu bedeutungsvollen Blicken.
Riley zuckte mit den Schultern, weil sie Annabels Verhalten niemandem erklären wollte. Natürlich verdienten die beiden Männer eine Erklärung, doch sie hatte leider keine passende.
»Hast du diese Bewegungen schon einmal gesehen?«, fragte Jubal. »Sie wirken, als gehörten sie zu einem Ritual, finde ich.«
»Ja.« Riley war so aufrichtig wie möglich, denn sie hatte das Gefühl, dass auch die Männer es gewesen waren. Dennoch wichen sie einander aus, um nur ja nichts preiszugeben, was sich nicht mehr zurücknehmen ließ.
»In den Karpaten habe ich ähnliche Gesten gesehen«, räumte Jubal ein. »Das war, als wir in den abgelegeneren Teilen der Berge beschäftigt waren. Ist deine Mutter dort schon mal gewesen? Hat sie irgendwelche Verbindungen zu Rumänien oder einem der anderen Länder, das die Bergkette durchzieht?«
Riley verneinte entschieden. »Wir waren einmal in Europa, aber nicht mal in der Nähe der Karpaten. Wenn wir reisen, dann fast immer nur nach Südamerika. Mom war schon viele Male hier. Wie die meisten der Frauen meiner Familie ist auch sie hier geboren. Da wir Nachfahren der Wolkenmenschen und der Inkas sind, hatte meine Familie schon immer großes Interesse an diesem Teil der Welt. Meine Mom ist hier aufgewachsen und ging erst in die Staaten, als sie meinen Vater kennenlernte und heiratete. Er war Amerikaner.«
»Bist du adoptiert?«, hakte Jubal nach. »Du siehst deiner Mutter überhaupt nicht ähnlich.«
Riley presste die Lippen zusammen. Diese Frage hatte sie ihr ganzes Leben lang gehört. Sie, Riley, war groß und hatte eine üppige Figur, eine fast durchsichtige Haut und große, mandelförmige Augen. Ihr Haar war glatt wie Seide und schwarz wie die Nacht. Ihre Mutter dagegen war sehr schlank, von mittlerer Größe und hatte wundervolle olivfarbene Haut und lockiges Haar.
»Nein, ich sehe nur wie eine meiner Ururgroßmütter aus. Sie war sehr hochgewachsen und hatte schwarzes Haar wie ich, wenn man den Zeichnungen von ihr glauben darf. Mom zeigte sie mir einmal, als ich wütend war, weil ich alle anderen in der Mittelschule überragte.«
Sie sprach zu schnell und zu viel, wie es so typisch für sie war, wenn sie nervös war. Warum stellten die Männer ihr so viele persönliche Fragen? Was spielte es für eine Rolle, dass sie nicht wie ihre Mutter aussah? Warum waren sie so interessiert? Am liebsten hätte Riley sich Annabel geschnappt und wäre mit ihr davongelaufen. Und wäre es nicht so, dass sogar der Wald entschlossen schien, sie
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