Gefangene der Flammen
mal seltsame Dinge. Und ihre Mutter verfügte zweifelsohne über Fähigkeiten, die sich nicht erklären ließen. Da waren die Reisen zu den Anden, die sie alle fünf Jahre unternahmen, und das auf dem Berg vollzogene Ritual. Und da waren auch die Gerüchte, Legenden und Überlieferungen von einem großen Übel, das zuerst die Wolkenmenschen und dann die Inkas vernichtet hatte. Natürlich glaubte keiner daran, doch mal angenommen, es wäre die Wahrheit?
»Ja«, gab sie zu, »ich glaube an die Existenz des Bösen.«
Jubal zögerte wieder. »Ich – wir – vermuten, dass irgendetwas sehr Altes hier draußen ist, ein böses Wesen, das die Macht besitzt, die Insekten zu beherrschen und in unser Bewusstsein einzudringen, um uns Dinge glauben zu machen, die nicht wahr sind.«
Seine Worte erinnerten Riley sofort an das aufgeregte Gerede ihrer Mutter über das in dem Berg gefangene Böse. Annabel und Riley unternahmen die Reise zu dem Berg, um ihn zu verschließen, um den Vulkan am Ausbrechen zu hindern, und Annabel hatte Angst, zu spät zu kommen. Riley wusste, dass Generationen von Frauen zu diesem Berg gekommen waren und die Reise in der Vergangenheit sogar noch viel strapaziöser und gefährlicher gewesen war, doch sie reisten auch heute noch immer an die gleiche Stelle und vollzogen dort das gleiche Ritual.
Könnte es also möglich sein? War tatsächlich etwas Böses in diesem Berg gefangen? Etwas, das die Frauen ihrer Familie Hunderte, ja möglicherweise sogar Tausende von Jahren darin festgehalten hatten? Riley erschauderte und drückte sich eine Hand auf den verkrampften Magen.
»Warum sollte dieses Böse es auf meine Mutter abgesehen haben?«
»Weil es sie offensichtlich in irgendeiner Weise als Bedrohung für sich sieht«, sagte Gary.
»Irgendetwas ist im Gange. Das Böse in dem Berg versucht mit voller Absicht, mich aufzuhalten. Es ist schon dicht unter der Oberfläche und verursacht Unfälle und Krankheit.« Riley erschauderte bei der Erinnerung an die angsterfüllten Warnungen ihrer Mutter. Sie hatte sie als durch Schock hervorgerufenes Gerede abgetan, aber jetzt war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Könnte es nicht vielleicht doch wahr sein?
Jubal trat näher an die Hängematte ihrer Mutter. Riley stürzte sich fast auf ihn, aber seine Körpersprache verriet, dass er in beschützerischer Absicht zu ihr ging. In angespannter Haltung blickte er zum Wald hinüber, und erst da wurde Riley sich der jähen Stille bewusst. Das fortwährende, nie endende Summen der Insekten war verstummt und hatte eine unheimliche Stille hinterlassen.
Instinktiv trat Riley zu ihrer Mutter, die sich schweißbedeckt in ihrer Hängematte herumwälzte und stöhnte. Dann hob sie die Hände und beschrieb mit einem faszinierenden Verdrehen der Finger ein kompliziertes Muster, als dirigierte sie ein Symphonieorchester, und jede ihrer fließenden Bewegungen war schön und sehr präzise. Rileys Hände webten wie von selbst das gleiche Muster in die Luft, als hätte sich die Erinnerung daran in ihren Knochen statt in ihrem Gedächtnis eingeprägt. Sie versuchte, die Arme herunterzunehmen, aber sie konnte Finger und Handgelenke nicht daran hindern, sich in den gleichen anmutigen Bewegungen wie die ihrer Mutter zu verdrehen.
Als Annabel sich nach Osten wandte, merkte Riley, dass sie sich unwillkürlich in die gleiche Richtung drehte. Unter ihren Fußsohlen konnte sie die Schwingungen der Erde spüren, die durch sie hindurchflossen wie der Saft durch Bäume. Ein Herz schlug tief unter der Erde, und Rileys Puls passte sich allmählich dem Rhythmus dieses gleichmäßig pochenden Herzens an. Sie fühlte sich der Erde verhaftet, als schlüge sie Wurzeln, um diese tief im Erdboden winkende Lebenskraft zu finden.
Sie spürte die verschiedenen Pflanzen, die alle ihren eigenen Charakter und ihre eigene Persönlichkeit besaßen. Einige waren giftig, andere Gegenmittel gegen Gifte. Sie erkannte sie als ihre Brüder und Schwestern, spürte, wie sie in ihr Wurzeln schlugen, durch ihre Adern in ihre inneren Organe krochen und sich um ihre Knochen wanden, bis ihre Blutbahnen von dem Lebenselixier des Regenwaldes sangen.
Rileys Wahrnehmung jedes Baumes, Strauches oder Pflanze in ihrer Nähe verschärfte sich, bis sie überaus genau war. Ihr Herz und ihre Seele flogen ihnen zu, und die Pflanzen revanchierten sich, indem sie ihren Mut und ihre Widerstandskraft stärkten, weil die Erde ihre Mutter war und jederzeit bereit, ihr beizustehen. Sie
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