Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
»Warum hat der Vampir nicht dich statt Eoduin entführt?« Nun hatten Dirnas Worte ihr noch mehr Schuldgefühle bereitet.
Die alte Magd streichelte sie und strich ihr beruhigend übers Haar. Langsam versiegten Aeriels Tränen. Sie klammerte sich an Bomba und empfand trotzdem keinen Trost. Die Alte seufzte tief auf und versank wieder in Schlummer. Die Frauen spannen weiter. Es ging sie nichts an.
Der Anstieg über die Felsen war steil, und Aeriel war außer Atem, denn sie hatte es eilig. Der Sonnenstern hatte sich kaum über den Rand der Wüste im Westen erhoben, als sie sich von den anderen während der Morgenandacht im Hofe des Dorfältesten davongestohlen hatte. Alle beteten zu den Unbekannten-Namenlosen – Göttern, die mit Feuer vom Himmel herabgestiegen
waren, um diese vormals tote Welt, den Mond des Planeten Oceanus, zum Leben zu erwecken. Man wusste nur wenig über sie, und über das Wenige sprach man kaum.
Aeriel beschleunigte ihren Schritt auf dem rutschigen Bergpfad. Niemand hatte sie beim Verlassen des Dorfes bemerkt. Sie trug nur ein langes Messer bei sich, das sie aus der Küche gestohlen hatte, und einen kleinen Sack mit Proviant. Sie wusste nicht, wie lange sie warten musste, bis der Geflügelte kam oder ihr Proviant zu Ende ging und sie sterben müsste. Sicher wird er kommen, dachte sie, ich muss nur lange genug warten. Er muss kommen!
»Hört mich, oh Ihr Unbekannten-Namenlosen«, keuchte sie, während sie hastig den engen ansteigenden Pfad emporeilte. Sie hatte noch nie zuvor gebetet, aber sie hatte den Dorfältesten beten hören, wenn er morgens die Andacht für die Hausgemeinschaft und abends für das ganze Dorf abhielt. »Hört meine Worte«, betete Aeriel. »Lasst Gerechtigkeit walten für den Tod meiner Herrin und Freundin. Niemand von ihrer Familie dürstet nach Rache …«
Ich würde es genauso machen, dachte Aeriel. Sie blieb stehen und rang nach Atem. Ihr schwindelte von der Eile. Gib, dass die Götter mich erhören, um Eoduins willen, ich selbst bin bedeutungslos. Die Unbekannten-Namenlosen erhörten nur selten Gebete, und im Allgemeinen wagten es nur bedeutende Persönlichkeiten, Bitten an sie zu richten. Sie blickte in den Sternenhimmel und hoffte aus ganzem Herzen, kein blauweißer Blitz würde niederfahren, um ihre Anmaßung zum Schweigen zu bringen. Es war nicht Mut, sondern Verzweiflung, die sie zu diesem
Aufstieg trieb. Denn schon am nächsten Tagmonat sollte der Sklavenmarkt in Orm stattfinden.
»Höret das Flehen einer nichtswürdigen Sklavin, Ihr Alten Götter«, rief sie in die dünne Luft, »und mir ist gleich, was mit mir geschieht.« Was war ihr Leben noch wert, jetzt, wo Eoduin tot war? »Selbst erneute Sklaverei will ich klaglos ertragen oder mich dem Tempeldienst weihen, oder mein Blut für Euch auf dem Altar vergießen, wenn das Euer Wille ist.«
Diese Zukunftsaussichten erfüllten Aeriel zwar mit Grauen, aber sie zwang sich trotzdem, die Worte auszusprechen. Sicherlich würden die Götter mit einem so abgrundtief Verzweifelten Mitleid haben. Der dunkle unendliche Himmel über ihr wirkte drohend, trotz der glitzernden Sterne. Sie rang nach Luft und spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Zornig wischte sie die Tränen ab, löste sich von der Felswand, an der sie gelehnt hatte, und eilte wieder den Bergpfad hinauf. »Auch ohne Tränen bin ich feige genug«, murmelte sie und schloss die Hand fester um den Griff des Messers. Aber bitte, lasst ihn kommen, betete sie abermals still vor sich hin. Lasst ihn kommen!
Der Sonnenstern stand tief am Sternenhimmel, als Aeriel den Gipfel erreichte. Die Luft war dünn und kalt. Kein Windhauch regte sich. Sie ließ ihren Proviantsack zu Boden gleiten und kauerte sich auf den harten heißen Fels. Langsam stieg die Sonne höher. Die Stellung der Himmelskörper veränderte sich allmählich, nur der Erdplanet hing regungslos gleich einem großen, langsam zwinkernden Auge am Himmel.
Als die Sonne vier Grad weitergewandert war, aß Aeriel eine Handvoll Hirsekörner und nahm einen Schluck Wasser aus der
Flasche. Als der Sonnenstern sechs Grad über der Ebene stand, aß sie wieder und stand auf. Ihre Beine waren steif und schmerzten; ein Fuß war eingeschlafen. Sie stapfte auf und ab auf dem bröckelnden Fels, um ihren Kreislauf anzuregen. Dann hockte sie sich wieder hin und wartete; sie döste, aß und wartete. Der Vampir kam nicht.
Die Sonne stand schon sechzehn Stunden am Himmel, als sie entdeckte, dass durch den
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