Gefangene Seele
zum Fenster und wartete auf die Morgendämmerung.
“Bist du sicher, dass du das nehmen willst?”, fragte Raphael, während er das riesige Gemälde, das ihm Jade gerade angereicht hatte, an seinem Bein abstützte.
Jade sah von dem Stapel Bilder auf, den sie zusammenpackte. Sie betrachtete dasjenige, das Raphael festhielt, und zuckte mit den Schultern.
“Es ist nur ein Bild. Wir brauchen das Geld.”
Raphael zog die Stirn in Falten. “Das Geld brauchen wir immer, aber das hier ist ein Gemälde mit deiner Mutter darauf.”
Jade richtete sich auf und drehte sich zu ihm um, um ihn kühl anzusehen.
“Sie ist nicht meine Mutter. Das ist Ivy.”
Raphael verzog das Gesicht. “Das ist ein und dasselbe, und das weißt du genau.”
“Nein, das ist es nicht. Meine Mutter war eine … sie … verdammt, Rafie, ich kann mich kaum an sie
oder
Ivy erinnern. Meine Mutter wurde plötzlich zu einer Pilze rauchenden Hippiebraut und nannte sich dann Ivy. Als sie starb, hat sie mich allein in der Hölle zurückgelassen. Warum sollte ich also auf ein blödes Gemälde von ihr Wert legen? Ich weiß noch nicht einmal, warum ich sie überhaupt gemalt habe, also pack es ein.”
“Sehr wohl, Ma’am.”
Jade starrte Raphael an, der grinste. Sie versuchte, weiter ernst zu bleiben, aber es gelang ihr nicht. Stattdessen packten sie ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Weg. Ein Nachbar hatte ihnen angeboten, sie mit seinem Lastwagen zum Markt zu fahren. Draußen schien die Sonne, der Himmel war blau. Es würde ein schöner Tag werden.
Jade lächelte Raphael an, als sie auf dem Rücksitz des Lieferwagens saßen. Sie hoffte, die Bilder, die sie auf ihrem Schoß festhielt, auf dem Markt verkaufen zu können. Er schaute sie kurz an und zwinkerte ihr zu, dann konzentrierte er sich wieder auf seinen Stapel Leinwände, den er neben sich balancierte.
Jade seufzte. Nie würde sie dem Mann böse sein können, der ihr das Leben gerettet hatte. Er war mehr als nur ihr bester Freund, er war quasi eine Hälfte ihres Lebens, ihres Herzens. Die Tatsache, dass sie ihr letztes Erspartes ausgegeben hatte, um die Standmiete für den Markt in San Francisco zu bezahlen, bedeutete ein großes Risiko für sie. Sie beide hatten schon so häufig Hunger gehabt und so oft auf der Straße schlafen müssen, dass Jade es aufgegeben hatte nachzuzählen. Deshalb war es nicht nur sinnlos, es war sogar eine reine Verschwendung, ihre Bilder, insbesondere das von Ivy, aufzubewahren. Als sie durch die geschäftigen Straßen von San Francisco fuhren, konnte es Jade nicht vermeiden, die Gesichter der fremden Passanten anzustarren – überzeugt davon, dass ihre Vergangenheit sie eines Tages einholen würde. Sie hatte riesige Angst davor, was passieren würde, wenn es so weit war.
Sie konnte sich an so gut wie nichts mehr erinnern, was war, bevor ihre Mutter sich in Ivy umbenannte. Nur ab und zu träumte sie nachts von einem großen dunkelhaarigen Mann, der mit ihr in einem Planschbecken spielte oder sie in den Schlaf schaukelte. Doch nie konnte sie sein Gesicht richtig erkennen, und wenn sie aufwachte, erinnerte sie sich nicht mehr an sein Aussehen.
Meistens war der Mann, der in ihren Albträumen auftauchte, Solomon. Solomon mit dem lächelnden Gesicht – der nach Räucherkerzen und Rauch roch –, der ihr die Haare bürstete und ihr über das Gesicht strich. Und der, nachdem Ivy gestorben war, ihren kleinen, noch nicht einmal siebenjährigen Körper an einen Pädophilen verkaufte, der auf zarte Mädchen stand. Das war der erste, aber bei Weitem nicht der letzte Mann, der sich an ihrem Körper labte. Und für die nächsten sechs Jahre wurde sie für die People of Joy eine einträgliche Ware – genau wie Raphael.
Jade konnte sich nicht daran erinnern, wie es war, bevor sie Raphael kennengelernt hatte. Seit sie sich erinnern konnte, gab es ihn in ihrem Leben. Er war ein hübscher Junge gewesen, drei Jahre älter als sie. Er hatte weder seine Mutter noch seinen Vater gekannt und trug keinen Nachnamen. Er entstammte derselben Kommune, in der Ivy gestorben war, und in der man nichts tun konnte, ohne dass Solomon es kontrollierte. Solomon hatte für ihn die Vaterrolle eingenommen. Raphael hatte nichts anderes kennengelernt, als den Befehlen des charismatischen Anführers zu folgen – er tat alles, um die wenigen Momente zu erhaschen, in denen Solomon ihn mit liebevoller Fürsorge bedachte. Auch er musste die “Onkel” ertragen, die Solomon für ihn zum Spielen
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