Gefangene Seele
beiläufig berührten. Während sie den Kleinen betrachteten, lächelten sie, als könnten sie gar nicht begreifen, dass ihre Liebe so etwas Wunderbares wie diesen Knaben hervorgebracht hatte.
Schnell war das Bild fertig. Jade rollte das Papier ein, band ein Gummiband darum und gab es der Frau.
“Netter Junge”, sagte sie.
Die Frau strahlte. “Danke.” Und schon waren sie verschwunden.
Jade starrte ihnen eine Weile nach, ohne zu bemerken, wie sehnsüchtig sie dabei ausgesehen haben musste. Und auch wenn sie nicht den geringsten Zweifel daran hatte, dass sie nie einen Mann treffen würde, der sie trotz ihrer Geschichte liebte, hörte sie nicht auf, sich zu fragen,
Was wäre, wenn doch?
Aber Jade hatte schon vor langer Zeit aufgegeben, ein normales Leben zu führen. Im Moment war sie nur froh, dass ihre Geldprobleme vorübergehend gelöst zu sein schienen. Also drehte sie sich wieder zu ihrer Staffelei um und begann, ihren Kohlestift für den nächsten Kunden anzuspitzen.
Wenige Minuten später stellte Raphael ein Tablett mit einem Becher Limonade neben ihr ab und streichelte ihr zärtlich über den Hinterkopf. Sie drehte sich um und lächelte ihn dankbar an. Dann ging sie wieder zurück zur Vorderseite ihrer Bude.
An der Wand befand sich ein leerer Fleck, an dem zuvor ein Ölgemälde gehangen hatte, das nun verkauft war. Raphael sah sich die übrigen Bilder an, um eines für die kahle Stelle auszuwählen. Da fiel ihm das Porträt von Ivy ins Auge. Er zögerte und erwog, Jade noch einmal zu fragen, ob sie es wirklich verkaufen wollte. Aber sie skizzierte bereits den nächsten Kunden. So überging er diese Frage, nahm das Bild und hängte es an dem leeren Haken auf.
Für Paul und Shelly Hudson war es Tradition, im Mai nach San Francisco zu fahren. Nicht nur war es die Stadt, in der sie sich vor siebenundzwanzig Jahren kennengelernt hatten, sondern sie hatten sich hier auch trauen lassen. Vielleicht führten sie deshalb immer noch so eine glückliche Ehe, weil sie sich einmal im Jahr die Zeit füreinander und für diese Reise nahmen. Aber zugleich besuchten sie alte Freunde und Bekannte in der Stadt.
Heute war Shelly mit ihrer Freundin Deb Carson auf den Markt in San Francisco gegangen, bevor sie und Paul am nächsten Tag wieder nach St. Louis zurückkehren wollten. Sie spazierten an den unterschiedlichen Verkaufsständen vorbei, während Paul und Debs Mann, Frank, zum Hochseeangeln hinausgefahren waren. Erst vor wenigen Wochen hatte Shelly ihre Liebe zur Fotografie entdeckt, und so machte sie unentwegt Schnappschüsse. Nachdem sie schon einige Stunden auf dem Markt zugebracht hatten, ließ sie ihre Kamera an der Schnur um ihren Hals hinabbaumeln und zeigte auf einen kleinen Tisch.
“Oh, sieh mal diesen kleinen hübschen Leuchtturm an!”, sagte Deb und zeigte auf einen Stand mit einer Auswahl an handgeschnitzten Figuren. Sie nahm den Turm in die Hand, las den Preis und stellte ihn mit einer Grimasse schnell wieder zurück auf den Tisch. “Um Himmels willen! Einhundertzwanzig Dollar.
So
hübsch ist er nun auch wieder nicht.”
Shelly lachte und nickte zustimmend. Als sie sich von dem Tisch wegdrehte, sah sie zufällig auf einen anderen Stand. Das Lächeln auf ihren Lippen erstarb.
“Mutter Gottes!”
Deb starrte ihre Freundin an. Shelly war blass und zitterte. Deb schlang ihren Arm um Shellys Hüfte und zog sie zu sich heran.
“Liebes … was ist los? Ist dir nicht gut?”
Shelly schüttelte den Kopf und deutete dann auf den Stand mit Ölgemälden.
“Die Frau dort auf dem Bild! Ich kenne sie … jedenfalls kannte ich sie einmal.”
“Ach wirklich? Wie aufregend! Woher hast du sie gekannt?”
“Sie war mit Pauls bestem Freund Sam verheiratet.”
Deb zog die Stirn in Falten. “Wieso war? Was ist mit ihr passiert?”
“Sie ist vor zwanzig Jahren eines Nachts verschwunden und hat ihre vierjährige Tochter mitgenommen.”
Debs Blick verdüsterte sich. “Wie traurig.”
Traurig war nicht der richtige Ausdruck für das, was danach mit Sam Cochranes Leben geschehen war. Die Tatsache, dass seine Frau ihn verlassen und ihre gemeinsame Tochter mitgenommen hatte, hatte ihn fast zerstört. Shelly vermutete, dass das Bild hier der erste Hinweis darauf sein konnte, was mit seiner Frau geschehen war. Sie wand sich aus Debs Umarmung.
“Ich muss mit dem Mann an dem Stand reden”, sagte sie und eilte auf den großen dunkelhaarigen Mann hinter dem Tresen zu. “Sir. Sir! Entschuldigung? Wie viel soll
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