Gefangene Seele
waren fort. Und während die Möglichkeit, dass das nicht mit rechten Dingen zugegangen war, nicht ausgeschlossen werden konnte, wusste er doch, was sie getan hatte. Schon seit Wochen hatte er Dinge bemerkt, die er hatte übersehen wollen. Er hatte nicht wahrhaben wollen, dass Maggie unglücklich war, schon gar nicht, dass das zum großen Teil an ihm gelegen hatte.
Er hatte die Ketten mit den bunten Perlen auf ihrem Nachtschrank gesehen, hatte bemerkt, dass sie eine neue Frisur und andere Kleider trug. Als er die Woche zuvor früher nach Hause gekommen war, hatte er die Sorte Wagen aus der Auffahrt fahren sehen, die gemeinhin als “Hippie-Auto” bezeichnet wurde. Als er Maggie danach fragte, sagte sie, es seien nur Leute gewesen, die nach dem richtigen Weg gefragt hätten. Er hatte ihr nicht geglaubt, aber er wollte auch nicht weiter auf das Thema eingehen. Doch nun war es zu spät.
Er rannte auf den Rasen im Vorgarten und dann die Auffahrt hinunter, nur um die Hecklichter zu sehen, die immer kleiner wurden, als der Wagen die Straße hinunterfuhr.
“Maggie! Komm zurück! Komm zurück! Um Himmels willen … komm doch zurück!”
Seine Rufe hallten durch die Nacht, als er dem Wagen hinterher die Straße hinabrannte, aber es war sinnlos. Das Fahrzeug verschwand. Sie war weg, und sie hatte ihr Baby mitgenommen.
* * *
1997
Von draußen drang das Leuchten der blinkenden Neonschrift durch das Schlafzimmerfenster und warf grelle Farben auf das schlafende Paar, wodurch ihre Gesichter wie Clownsgrimassen aussahen.
Am Hotel fuhr gerade ein Streifenwagen mit Sirenengeheul vorbei. Die Frau kniff die Augen zusammen und begann zu stöhnen, was den Mann, der neben ihr schlief, sofort aufschrecken ließ.
Er hieß Raphael, und so lange er denken konnte, war Jade der einzige Mensch, den er jemals geliebt hatte. Er stützte sich auf dem Ellenbogen auf, um sie anzusehen. Er musste die Augen zusammenkneifen, denn bei jeder Bewegung schien sich der Raum zu bewegen. Dabei ignorierte er, dass ihm ein wenig schlecht war, und fuhr sich mit zitternder Hand über das Gesicht. Er blickte Jade an.
Sie träumte schon wieder. Das sah er an ihrem Gesichtsausdruck. Die Hölle, durch die sie beide als Kinder gegangen waren, hatte bei beiden Narben hinterlassen, die sich kein Mensch vorstellen konnte. Wenn er an Gott geglaubt hätte, hätte er für ihrer beider Seelenfrieden gebetet. Aber so, wie er die Sache sah, war Gott nur ein Mythos. Falls er wirklich existieren sollte, dann hätte er niemals zugelassen, was ihnen zugestoßen war. Also war es seine Aufgabe, Jades Albträume zu lindern.
Er beugte sich zu ihr hinunter, bis seine Lippen fast ihr Ohr berührten. Dann flüsterte er leise: “Jade … Jade … es ist okay, Baby, alles ist in Ordnung. Keiner wird dir etwas tun … niemand wird dir jemals wieder etwas tun.”
Dann schob er seinen Arm unter ihren Nacken und zog sie fest an seine Brust.
Irgendwo in Jades Unterbewusstsein nahm sie wahr, dass es Raphaels Stimme war, die zu ihr sprach. Danach verschwand die Panik. Sie erschauderte und seufzte.
“Ja, so ist’s gut”, flüsterte Raphael und strich ihr über das Haar, bis er merkte, dass sie sich entspannte. “Du bist sicher. Du bist bei mir. Bei mir bist du immer in Sicherheit.”
Jade schlief wieder ein, aber Raphael fand nicht in den Schlaf zurück. Schlaf war für ihn zur ausgleichenden Gerechtigkeit geworden. Es war die Vergeltung, die er am Leben übte. Der Schlaf raubte ihm wertvolle Zeit, die er ungern verschwendete. Er spürte einen Knoten im Bauch, der nichts mit der Übelkeit zu tun hatte, die er noch vor wenigen Augenblicken wahrgenommen hatte. Er hatte Angst, ganz schlicht und einfach. Jade war sein Leben – sie bedeutete ihm alles –, aber weil er sie vor ihrer Vergangenheit schützen wollte, hatte er etwas getan, was er nicht hätte tun dürfen. Er hatte etwas getan, das er nun wieder hinbiegen musste. Jade war im Laufe der Zeit so abhängig von ihm geworden, dass er sich nicht sicher war, ob sie auch allein klarkommen würde. Er hatte nicht gewollt, dass es so kam, aber es war nun einmal geschehen.
Schlafend drehte sie sich in seinen Armen und presste ihre Wange an seine Brust. Ihr warmer Atem war wie ein zärtliches Streicheln auf seiner Haut. Er schluckte schwer und fuhr mit seinen Fingern durch ihr Haar. Gedankenverloren streichelte er ihre langen Strähnen.
“Ich liebe dich, hübsches Mädchen”, sagte er leise. Dann drehte er sich mit dem Gesicht
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