Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
herlocken.“
Es blieb still. Dachte sie, er wüsste nicht, wer sie war?
„Wo lernen Mediale, auf Bäume zu klettern?“ Er blieb stehen, als er unter dem Ast, auf dem sie sich zusammengekauert hatte, einen verräterischen Fuß herauslugen sah.
„An der Kletterwand einer Sporthalle“, war die kühle Antwort. „Leider werde ich jetzt beim Abstieg Schwierigkeiten haben.“
Er kämpfte gegen das instinktive Bedürfnis an, sie unter seinen Schutz zu stellen. „Krallen?“
„Oder Bisse. Die Wade.“
Er hörte, wie sie sich bewegte, herunterzusteigen versuchte. Die Raubkatze in ihm war Chauvinist. Er half Frauen gern. Und diese Frau reizte ihn zudem zum Beißen, Schmecken und Schlemmen. Doch neben dieser unerklärlichen, äußerst sexuell geprägten Anziehung gegenüber der eiskalten Ashaya Aleine spürte er auch ein kalt abwägendes Raubtier in sich, dem immer bewusst war, dass eines der Silentium-Monster sein eigen Fleisch und Blut getötet, sein Herz herausgerissen hatte. Vergebung war unmöglich. „Wir sind quitt“, sagte er. „Die Schuld ist beglichen.“
Kurze Stille. „Mein Sohn ist in Sicherheit?“
Kein Gefühl lag in diesen Worten. Aber warum hatte sie dann überhaupt gefragt? „Wir halten unsere Versprechen.“
„Wer sind Sie überhaupt? Ich weiß nur, dass Sie ein Freund von Talin McKade sind.“ Der Geruch von Blut, das Geräusch von Stoff auf Baumrinde.
Seine Aufmerksamkeit ließ nicht nach. Er würde sie auffangen, wenn sie fiel. „Wie haben Sie denn die Katzen davon abgehalten, den Baum hochzuklettern? Der Stamm ist voller Blut, auch der Ast. Verführerisch wie Katzenminze.“
Sie brauchte etwas Zeit, um diesen Ball wieder zurückzuspielen, er hörte, dass sie mehrmals tief ein- und ausatmete. „Ich habe kurze telepathische Schläge ausgeteilt, das hat sie zurückgehalten.“
Zorn stieg in ihm hoch. „Warum haben Sie nicht gleich ihr Gehirn zu Brei zermanscht?“ Das hatten Mediale früher getan. Deshalb waren die Gestaltwandler dazu übergegangen, Angehörige dieser gefühllosen Gattung ohne viel Federlesens erst zu töten – und dann Fragen zu stellen.
Wieder trat Stille ein, wieder hörte er sie unter Schmerzen atmen. Wahrscheinlich hatte sie inzwischen den Stamm erreicht und sammelte neue Kräfte, um hinabzusteigen. Der Blutgeruch wurde stärker. Sie verlor viel Blut. Beschützerinstinkt und Wut prallten aufeinander, kämpften kurz miteinander und trennten sich wieder.
„Nicht alle Mediale sind gleich“, stieß sie gepresst hervor. „Ich konnte gerade genug telepathische Kräfte mobilisieren, um mir einen von ihnen vom Leib zu halten. Mein Versuch, einen größeren Schlag zu landen, hat mir nur gerade eben die Zeit verschafft, auf den Baum zu klettern – und selbst davon haben sie sich schnell erholt.“
„Man muss nicht über mächtige telepathische Kräfte verfügen, um zu töten.“ Er war auf den Baum gestiegen, noch bevor er bewusst die Entscheidung getroffen hatte, ihr zu helfen.
„Das stimmt, aber man muss seine anderen Fähigkeiten in tödlicher Absicht bündeln können. Das ist eine Gabe, über die ich nicht verfüge.“ Sie schwieg kurz. „Warum erzähle ich Ihnen das bloß alles?“
Oben angekommen sah er, dass sie mit geschlossenen Augen rittlings auf dem Ast saß. „Weil der Blutverlust Sie erschöpft und geschwächt hat“, sagte er, und sie schlug die Augen auf. Er hielt sie fest. „Legen Sie auch das andere Bein hier rüber.“
Sie tat es. „Ich habe wahrscheinlich nicht genügend Kraft, um zu klettern.“
Er legte einen Arm unter ihre Oberschenkel, umfasste mit dem anderen ihren Oberkörper und sprang. Landete mit beiden Füßen auf dem Waldboden und fing den Aufprall mit der ihm angeborenen katzenhaften Geschmeidigkeit ab. Er hatte schon als Kind die Ärzte verwirrt. Alles an ihm war Raubkatze, ihm fehlte nur die Fähigkeit, sie wirklich zu sein. Er war nie auf vier Pfoten gelaufen, hatte nie den Wind in seinem Fell gespürt, nie seine Beute im Nacken gepackt, sie nie mit diesem wilden Hunger zur Strecke gebracht.
„Beeindruckend.“
Er sah die Frau in seinen Armen an, sagte aber nichts, als er sie auf dem Boden absetzte. Sie presste die Hände um die rechte Wade. Wenn sie so viel Blut verlor, musste die Wunde zumindest genäht werden. Er griff nach ihrem Rucksack, über den sich die Luchse hergemacht hatten, und öffnete die Schnallen. „Haben Sie Erste-Hilfe-Zeug dabei?“ Der feste Stoff des Rucksacks hatte die Krallen relativ
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